Sie haben es satt
Die immer gleichen Geschlechterklischees und Erzählweisen auf Bildschirm und Leinwand, eindimensionale Frauenrollen und zu wenig weibliche Charaktere, die die Handlung vorantreiben: Immer mehr Menschen sind immer weniger damit einverstanden, wie Frauen in Film und Fernsehen gezeigt werden. Dabei haben sie ein gemeinsames Ziel: Veränderung.
Text: Katalin Valeš
Klischees und Doppelmoral
„Wir wissen aus dem Fernsehen, wie eine ermordete Frau aussieht – meist eine blutige Angelegenheit. Aber wir sehen niemals Menstruation in Filmen“, sagt Barbara Rohm, Kulturmanagerin und Mitbegründerin der Initiative Pro Quote Film. Ein kleines Beispiel, das ein großes Problem verdeutlicht: Die weibliche Perspektive kommt zu selten vor. Geschichten, die Frauen erzählen oder erzählen wollen, werden immer noch als nicht so relevant angesehen, komplett ausgeblendet oder tabuisiert. Dagegen gibt es reichlich nackte Haut, vor allem von jungen Frauen.
Die immer gleichen Erzählmuster vermitteln aber ein fragwürdiges Bild: „Wir haben oft den männlichen Helden und die Frau als Trophäe, die es zu erringen gilt, weil sie aus dem männlichen Blick heraus begehrenswert ist. Oder Frauen, die im Film dazu da sind, den männlichen Charakter zu illustrieren und interessanter zu machen, die aber eben oft keine eigene Geschichte haben und die Handlung nicht vorantreiben.“ Rohm ärgert sich auch über Altersdiskriminierung und versteckten Rassismus: Frauen ab 30 verschwinden mit zunehmendem Alter sukzessive. Asiatische und schwarze Frauen werden oft gezeigt als kalte, aber sexuell verfügbare „Dragon Lady“ oder als „Angry Black Woman“, die ihre Impulse nicht unter Kontrolle hat. „Das sind Zuschreibungen mit einer langen Geschichte und zutiefst rassistischen Wurzeln.“
Die vielen Väter des Problems
Für Barbara Rohm liegt eine Ursache des Problems darin, dass Frauen lange Zeit der Zugang zu Ressourcen fehlte. Das Paradox: „Sie werden an den Filmhochschulen beinahe paritätisch ausgebildet. Doch später fassen sie in der Branche keinen Fuß. Nur zehn Prozent der bundesweiten Filmförderung fließt in die Projekte von Frauen.“
Auch die Situation hinter den Kulissen sei kritisch zu betrachten, findet sie: „Was hinter der Kamera passiert, spiegelt sich in den Geschichten wider. Wenn Menschen, die am Produktionsprozess beteiligt sind, Stereotype und Stoffe nicht hinterfragen, reproduzieren sie ständig ein Rollenbild, das überhaupt nicht zeitgemäß ist.“ Initiativen wie #metoo, die auf sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe aufmerksam machte, oder #Actout, bei der fast 200 deutsche Filmschaffende erst kürzlich gemeinsam ihr Coming-out bekannt gaben, lassen ahnen, wie es um eine Branche bestellt ist, die zwar äußerlich innovativ wirkt, die aber in Wirklichkeit teilweise in einem desolaten Zustand mit massiven Problemen zu sein scheint.
Auch die Film- und Fernsehschauspielerin Belinde Ruth Stieve setzt sich seit Jahren ein für mehr Geschlechtergerechtigkeit vor und hinter der Kamera, für neue Geschichten, für den Abbau von Klischees, mehr Sensibilität, mehr Tiefgang und für mehr Mut. Seit vielen Jahren betreibt sie den Blog „SchspIN – Gedanken einer Schauspielerin“, in dem sie auf Missstände in der Branche aufmerksam macht. Dabei bekommt sie immer wieder zurückgemeldet: vielen Menschen sei das Ungleichgewicht an Frauen- und Männerrollen oder die klischeehafte Darstellung weiblicher Figuren gar nicht bewusst. Doch wer einmal darauf achtet, wird nie wieder so Filme und Serien schauen wie zuvor.
„Wenn es mehr Frauen in einer Geschichte gibt, könnte es junge und alte, hässliche und schöne, selbstlose und unsympathische Frauen geben sowie Trampel, Zicken und Feen. Sie können verschiedene Sexualitäten leben, verschiedenen Ethnien angehören. Wenn es nur ein oder zwei Frauen gibt, ist Vielfalt gar nicht machbar“.
Belinde Ruth Stieve, Schauspielerin
Laut Studien der Rostocker Medienwissenschaftlerin Elizabeth Prommer sind im deutschen Fernsehprogramm im Schnitt aller Genres nur zu 33 Prozent Frauen zu sehen. Eine Tatsache mit weitreichenden dramaturgischen Konsequenzen: „Wenn es mehr Frauen in einer Geschichte gibt, könnte es junge und alte, hässliche und schöne, selbstlose und unsympathische Frauen geben sowie Trampel, Zicken und Feen. Sie können verschiedene Sexualitäten leben, verschiedenen Ethnien angehören. Wenn es nur ein oder zwei Frauen gibt, ist Vielfalt gar nicht machbar“, sagt Belinde Ruth Stieve. Wie Menschen in Film und Fernsehen dargestellt werden, formt unser Denken: „Rollenbilder, die wir von klein auf erleben, prägen unsere Sicht auf die Gesellschaft und die Menschen in ihr und auch die Sicht auf uns selbst. Sie sind so weit verbreitet und normal, dass wir sie oft gar nicht mehr bewusst wahrnehmen.“
Daher ärgern sie Filme und Serien, in denen eine Frau im Gegensatz zum Mann keinen erkennbaren Beruf hat oder die weibliche Hauptrolle nur passives Objekt der männlichen Begierde ist. Zu oft gesehen hat sie Krimis, die mit der brutalen Vergewaltigung oder Ermordung einer halbnackten Frau beginnen, Oder Storys, über taffe, erfolgreiche, aber biestige Businessfrauen, die erst locker werden, wenn der richtige Mann kommt. Auch Komödien, in denen die leicht dämliche Heldin natürlich eine Brille trägt, gibt es zuhauf.
Immer die selbe Leier!
„Die übertrieben emotionale Teenagerin, die aufopferungsvolle Mutter oder die schlechte Mutter, die machtlose Ehefrau, die sexy Actionpuppe, die planlose Twentysomething, das Manic-Pixie-Dreamgirl, die durch Gewalt traumatisierte Bösewichtin, die lustige kräftigere beste Freundin, die asexuelle ältere Frau, die unattraktive Emanze, und Frauen, in heterosexuellen Liebesgeschichten, die selten aktiv werden, um ihren Schwarm für sich zu gewinnen“, all das sind typische Frauenrollen, die Lara Keilbert von der Online-Plattform FILMLÖWIN immer wieder in Film und Fernsehproduktionen ausmacht. Sie macht das wütend.
Mit ihren schonungslosen, feministischen Rezensionen, Podcasts und Veranstaltungsformaten wollen die Macherinnen der FILMLÖWIN jedoch nicht nur kritisieren. Ihr Ziel: Dazu beitragen, Filmen von und über Frauen zu mehr Öffentlichkeit und zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Denn es gibt sie, die wirklich guten Filme: „Da stecken oft so viel Energie und so viele spannende Ideen drin“, sagt Lara Keilbert begeistert. Diese Filme ins öffentliche Bewusstsein zu rücken sowie die Frauen, die in fast allen Bereichen der Filmproduktion tätig, aber unterrepräsentiert sind, ist für die 36-Jährige Journalistin und Audioproduzentin ein wichtiger Antrieb: „Feminismus fetzt und bringt tolle Menschen zusammen, die sich gemeinsam für eine Sache einsetzen.“
„Es ist egal, ob wir über Hollywood oder über den Tatort reden: Alle haben die gleichen Probleme. Die Frauen werden ausgebildet und dann schaffen sie es nicht, sich in der Branche zu etablieren.“
Barbara Rohm, Power to Transformator e.V.
Feministischer Thinktank
Sich zu vernetzen und gemeinsam Ideen entwickeln, wie es besser gehen könnte – darum geht es auch bei dem neusten Projekt von Barbara Rohm und ihren Mitstreiterinnen: ‚Power to Transform!‘ ist ein Thinktank für weibliche Perspektiven. „Damit möchten wir zeigen, wie ein Kulturwandel gelingen kann. Wir wollen einen Austausch anregen zwischen der Wissenschaft auf der einen und Politik, Journalismus und Medienschaffenden auf der anderen Seite.“ Denn es gebe inzwischen weniger ein Erkenntnis-, sondern eher ein Umsetzungsproblem. „Wir möchten dafür sorgen, dass die fundierten, wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diesem Gebiet endlich in die Praxis einfließen, damit Veränderungen Realität werden.“
Rohm setzt dabei auf Kooperationen und Vernetzung – international und national. Denn: „Es ist egal, ob wir über Hollywood oder über den Tatort reden: Alle haben die gleichen Probleme. Die Frauen werden ausgebildet und dann schaffen sie es nicht, sich in der Branche zu etablieren.“
Ärztin mit Hijab in GZSZ
Im Abspann der Daily Soap ‚Gute Zeiten, schlechte Zeiten‘, werden in der Kategorie ‚Drehbuch‘ elf Frauen- und elf Männernamen aufgelistet. Um die drei Millionen Menschen schalten montags bis freitags ein. Sie begleiten dabei Tag für Tag die guten und die schlechten Zeiten der Charaktere: Da ist zum Beispiel die Ärztin mit Hijab und Technikverständnis; die Polizistin mit Herz; die skrupellose Geschäftsfrau mit pubertierender Tochter; die Köchin, die selbst im größten Stress die Ruhe bewahrt; die Inhaberin eines Modelabels mit ihrem Schulkind; die Physiotherapeutin mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn; die Führungskraft einer Immobilienfirma, die sich aus häuslicher Gewalt befreit hat; die Barkeeperin mit drei erwachsenen Kindern und Baby sowie die kinderlose Singlefrau, die sich nach Abbruch ihres Studiums eine funktionierende Alternative überlegt hat.
„Wir wissen, dass serielle, fiktionale Formate vor allem von einem weiblichen Publikum gesehen werden. Es wäre also bescheuert, in einer Daily Soap vornehmlich Männer in Hauptrollen zu zeigen oder auf starke Frauenrollen zu verzichten.“
Petra Kolle, Produzentin GZSZ
Nazan, Toni, Katrin, Daniela und Co treffen selbstbestimmte Entscheidungen, zweifeln, scheitern, reifen, haben Erfolg und meistern ihren Serienalltag. „Wir wissen, dass serielle, fiktionale Formate vor allem von einem weiblichen Publikum gesehen werden. Es wäre also bescheuert, in einer Daily Soap vornehmlich Männer in Hauptrollen zu zeigen oder auf starke Frauenrollen zu verzichten“, sagt Petra Kolle. Seit sechs Jahren ist sie Produzentin des UFA-Erfolgsformates. GZSZ ging 1992 bei RTL an den Start und läuft damit seit fast dreißig Jahren. „Wir haben den Anspruch, täglich ein unterhaltsames Format zu machen. Es ist schön, dass wir in unserer kleinen Welt viele Frauen so unterschiedlich zeigen können“, sagt Kolle. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten möchte sie Teil der Lösung im Veränderungsprozess sein: „Wenn wir mit unserer Arbeit einen klitzekleinen Beitrag gegen Sexismus leisten können, dann machen wir das. Zum Beispiel indem wir Frauen als Identifikationsfiguren zeigen – als Protagonistinnen ebenso wie als Antagonistinnen.“
Den Menschen eine Chance geben
Auch der non-fiktionale Fernsehbereich prägt unser Bild von der Welt. Journalistische Beiträge mit ungewöhnlichen Perspektiven auf die Gesellschaft seien gefragt, erzählt Anke Kossira. Sie hat früher unter anderen an Formaten für Günther Jauch und Kai Pflaume redaktionell mitgearbeitet und gehört heute zur Geschäftsführung der Leipziger Produktionsfirma ‚Cine Impuls‘. Ihr Unternehmen hat sich Diversität auf die Fahnen geschrieben. Als Producerin hat sie hier unter anderem vier Jahre lang das preisgekrönte Magazin ‚MDR selbstbestimmt – Leben mit Behinderung‘ betreut sowie verschiedene Formate für den KiKA.
Entstanden sind dabei bewegende Geschichten über Frauen mit Handicaps und Mädchen mit starken Hobbys. „Das Thema Diversität liegt mir sehr am Herzen. Schon vor elf Jahren habe ich Langzeitbeobachtungen mit transsexuellen Kindern und Jugendlichen begleitet“, erzählt Anke Kossira. Mit einigen der damals 13- und 14-Jährigen drehe sie noch heute gelegentlich. „Ich wollte diesen Leuten eine Chance geben, aus dieser doch etwas ‚trashigen‘ Ecke rauszukommen. Das hat mich angetrieben.“ Fernsehen regt Anke Kossira oft auf: „Wir brauchen Frauenbilder im Fernsehen, die Lust darauf machen, selbstständig zu sein, die zeigen, dass alleinstehende Frauen wunderbar Spaß haben können oder dass Kinderlosigkeit eine bewusste Entscheidung sein kann.“
„Gerade bei sensiblen Themen ist das Ergebnis mit einer Frauen-Crew, also auch in den technischen Gewerken, ein ganz anderes. Wenn ich da mit Kamerafrau, Tonassistentin und Autorin auftauche, entsteht eine ganz andere Atmosphäre, eine andere Art der Empathie.“
Anke Kossira, Produzentin
Beim Dreh zwischendurch stillen
Vielfältige Themen durch vielfältige Teams: Das ist das Credo von Anke Kossira. „Ich bin für eine Quote und zwar 50:50“, sagt sie entschieden. „Gerade bei sensiblen Themen ist das Ergebnis mit einer Frauen-Crew, also auch in den technischen Gewerken, ein ganz anderes. Wenn ich da mit Kamerafrau, Tonassistentin und Autorin auftauche, entsteht eine ganz andere Atmosphäre, eine andere Art der Empathie. Technische Begriffe werden einfacher erklärt. Der Abstand zwischen den Menschen vor und hinter der Kamera wird geringer.“ Kamerafrauen seien weniger dominant und begleiteten Situationen eher. Dadurch entstünden manchmal ganz wundervolle Bilder, sagt sie. „Die Menschen vor der Kamera öffnen sich mehr.“
Aus dieser Erfahrung heraus hat Kossira bei einer ihr wichtigen 30-minütigen Reportage auf eine bestimmte Kamerafrau bestanden – obwohl diese zum Beginn der Dreharbeiten bereits im achten Monat schwanger war. „Wir haben die Dreharbeiten gemeinsam begonnen und gemeinsam abgeschlossen. Die Produktion habe ich so geplant, dass wir das Projekt gemeinsam rocken konnten. Als das Baby geboren war, gab es beim Dreh eine Babysitterin. Zwischendurch hat die Kamerafrau gestillt. Sie zu unterstützen und dabei zu haben, war mir sehr wichtig.“
Die Branche mitgestalten
Es sind viele Rädchen, die an verschiedenen Stellen versuchen, ein anderes Bild von Frauen auf die Bildschirme und Kinoleinwände zu bringen. Die einen beobachten, die anderen zählen nach, wieder andere versuchen bei ihren Produktionen gendersensibel zu arbeiten. Auch Schauspielerinnen hinterfragen Rollen und Handlungen. Belinde Ruth Stieve hat schon mehrfach Drehbücher abgelehnt: „Sowohl bei Filmrollen als auch bei Werbespots. Da gehe ich dann teilweise gar nicht erst zum Casting. Ich habe auch schon mal eine Rolle für einen Werbedreh abgelehnt, weil die männliche Hauptrolle eine deutlich höhere Gage bekommen sollte. Die Rollen waren gleich groß“, erzählt sie. Auch der Gender-Pay-Gap ist also ein Teil des Problems.
Texte zu ändern sei für sie als Schauspielerin hingegen nicht leicht. Ihre Möglichkeiten liegen vor allem in der Art, wie sie die Figuren im Drehbuch interpretiert. Klischees, die über die Kleidung transportiert werden, könne sie versuchen, bei der Kostümabteilung anzusprechen und sich dort für eine Veränderung einzusetzen. Doch Belinde Ruth Stieve denkt größer. Es geht nicht nur um ihre eigene Person, sondern um strukturellen Wandel. Seit Jahren analysiert sie u. a. ARD-Tatorte, ZDF-Fernsehfilme sowie deutsche Kinofilme. Vieles liege da im Argen. Ein Beispiel: „Bei den allermeisten Gewaltszenen gegen Frauen bedient die Kamera die Täterperspektive. Wir sehen also den Männerblick auf eine Frau in Todesangst. Eine Kameraeinstellung, aus Sicht der Frau auf den brutalen Gewaltverbrecher, sehen wir fast nie.“ Vielleicht, weil die Kameramänner, die es ja meistens sind, darauf nicht kommen, genauso wenig wie diejenigen, die für Drehbücher verantwortlich sind. Männer sind hier mit 80 Prozent gegenüber 20 Prozent Drehbuchautorinnen deutlich in der Überzahl.
Probleme erkennen ist das eine, sie zu lösen, das andere. Ideen dafür gibt es: Belinde Ruth Stieve hat beispielsweise das Gender- und Diversity-Tool ‚NEROPATM Neutrale Rollen Parität‘ entwickelt. Im ersten Schritt führt es generell zu mehr Frauenrollen in den Drehbüchern; im zweiten Schritt führt es zu mehr Diversität für alle Figuren, egal welches Geschlecht. Das Ergebnis: vielfältigere Frauenbilder in Kino und TV. Wie ihre Methode genau funktioniert, erklärt sie in Vorträgen und Workshops. Außerdem bietet sie eine Begleitung in der Anwendung an. Sie würde sich wünschen, ihre Methode überall da verpflichtend zu machen, wo öffentliche Gelder im Spiel sind.
Was Mariechen nicht lernt …
Rollenbilder werden bereits im Kindesalter geprägt. Die als MaLisa-Studie bekannte Untersuchung ‚Audiovisuelle Diversität‘ hatte im Jahr 2017 für reichlich Wirbel gesorgt, weil herauskam: Das Verhältnis männlicher Hauptakteure zu Protagonistinnen liegt im deutschen Kinderfernsehen bei 1:3 und speziell beim KiKA, dem öffentlich-rechtlichen Kinderfernsehkanal von ARD und ZDF bei 1:2. Dadurch wurde ein Veränderungsprozess in Gang gesetzt. In Erfurt, dem Sitz des KiKA, kamen die wissenschaftliche Leiterin der Studie, Prof. Dr. Elizabeth Prommer, und Maria Furtwängler, die als Gründerin der MaLisa-Stiftung die Studie initiiert hatte, mit den Programm- und Formatverantwortlichen des Kinderkanals zusammen. Mit am Tisch saß auch Karola Wille, MDR-Intendantin und damalige ARD-Vorsitzende. Ziel der Runde war es, Handlungsbedarfe abzuleiten und Kernerkenntnisse in zukünftige Programmentwicklungen des KiKA einfließen zu lassen. Um die wissenschaftliche Debatte rund um die Diversität im deutschen Fernsehen zu unterstützen, hat sich der KiKA an der Folgestudie beteiligt, deren Ergebnisse diesen Sommer veröffentlicht werden sollen.
„Mit der Unterzeichnung der ‚Charta der Vielfalt‘ im Februar 2020 haben wir uns zu unserer gesellschaftlichen Verantwortung bekannt. Damit verbunden haben wir zum Deutschen Diversity-Tag 2020 einen detaillierten Blick auf unsere Formate geworfen und uns der Kritik von fünf externen Referent*innen gestellt“, so KiKA-Programmgeschäftsführerin Astrid Plenk. Ihre Analysen seien in Redaktionen und Gremien selbstkritisch ausgewertet worden und flössen in die Arbeit an bestehenden und neuen Inhalten ein. Fortlaufend gebe es interne Workshops sowie mittlerweile eine Checkliste für alle Programmschaffenden.
Aktuell werde an Guidelines für Sprache und Bildsprache gearbeitet. „Damit wollen wir alle, die für uns arbeiten, sensibilisieren. Wir wirken am MDR-Netzwerk Vielfalt mit und tauschen uns mit Kolleg:innen über aktuelle Entwicklungen aus.“ Das Resultat: Mehr Moderatorinnen, zwei neue KiKA-Wissensmacherinen und ein anderer Blick auf die Rollengestaltung neuer Stoffe – 2020 starteten Formate mit starken weiblichen Role Models wie Wikingerprinzessin Gudrun und Ingenieurin Bitz.
Auch wenn alte Vorlagen neu überarbeitet werden, macht sich die neue Gendersensibilität bemerkbar. So werden in der neuen 3-D-Animationsserie ‚Die Schlümpfe‘ neben Schlumpfine zahlreiche andere weibliche Schlümpfe zu sehen sein – beziehungsweise Schlümpfinnen oder Schlumpfinnen.
Dating-Show für Frauen
„TV-Inhalte sind immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Daher sind auch Geschlechterrollen im TV einem stetigen Wandel ausgesetzt“, sagt Marie-Fee Taube von der RTL Mediengruppe. „Wir berücksichtigen im Lektorat für fiktionale Stoffe Diversitätsfaktoren und monitoren seit Längerem den Frauenanteil in den RTL-Produktionen. Außerdem wird in der Fiction derzeit ein Leitfaden für Diversity entwickelt.“ Sie nennt zahlreiche Beispiele für bekannte Frauen in Serien, Shows sowie im News- und Magazinbereich. Kritik an Formaten wie der Reality-Dating-Show ‚Der Bachelor‘, in dem um die zwanzig Frauen um das Herz eines Rosenkavaliers buhlen, will sie nicht gelten lassen: „Daran nehmen viele emanzipierte Frauen teil. Sie entscheiden sich freiwillig für ihre Teilnahme. Während der Produktion steht ihnen frei, dem Bachelor einen Korb zu geben, eine Rose abzulehnen oder die Sendung zu verlassen.“ Zudem gebe es mit ‚Die Bachelorette‘ bereits sieben Staffeln der umgekehrten Variante. In diesem Jahr starte außerdem ‚Princess Charming‘ – nur für Frauen.
Vielfalt als Wirtschaftsfaktor
„Vielfalt spielt bei uns seit jeher eine ganz entscheidende Rolle, weil Millionen von Menschen auf der ganzen Welt unsere Inhalte sehen und ihre Lebenserfahrungen bei uns reflektiert sehen möchten“, sagt eine Netflix-Sprecherin. Sie möchte aufgrund der hauseigenen Kommunikationsstrategie nicht namentlich genannt werden. Netflix ist mit über 195 Millionen zahlenden Mitgliedern in über 190 Ländern der größte Streaming-Entertainment-Dienst weltweit und bietet Zugriff auf Serien, Dokumentationen und Spielfilme. Hier und auch bei anderen Streamingdiensten wurde festgestellt: Vielfalt lohnt sich. Auch Barbara Rohm, Initiatorin des feministischen Thinktanks ‚Power to Transform‘, stellt einen Unterschied zum konventionellen Programm fest: Es gebe hier eine größere Bandbreite und immer mehr Ausnahmen, in denen die weibliche Perspektive erzählt werde. Und sie beobachtet eine Offenheit für andere Blickwinkel: „Da gibt es, auch weil das Angebot so viel größer ist, mehr Mut, mal andere Dinge auszuprobieren und andere Wege zu gehen“, sagt Barbara Rohm. Dieser Mut fehle in der deutschen Fernseh- und Filmlandschaft noch.
Also alles gut in der Streaming-Welt? Nein, sagt Barbara Rohm. Auch bei Streaming-Anbietern gebe es viele stereotype Darstellung von Frauen, wie eine 2019 erschienene Studie der MaLisa-Stiftung zeigt: Demnach werden Frauen auch in Streaming-Angeboten entlang tradierter Geschlechterbilder besetzt. So sind zwar in sogenannten ‚Romantik-Formaten‘ rund 49 Prozent der zentralen Rollen weiblich, in politischen, Action- und Abenteuer-Formaten machen sie allerdings nur knapp 36 Prozent der Rollen aus. Geschlechterstereotype bleiben im Großen und Ganzen verankert: Frauen sind schlank, häufig jung und werden seltener homosexuell dargestellt als Männer. Ihre Berufe betonen vor allem ihre emotionale Kompetenz.
„In der Gesamtheit ist das Bild dann doch nicht anders. Aber dadurch, dass so viel angeboten wird, gibt es immer mehr diese kleinen Türchen, die sich öffnen“, sagt Barbara Rohm. „Wir arbeiten sehr eng mit unseren Produzentinnen und Produzenten, Darstellerinnen und Darstellern oder Autorinnen und Autoren zusammen, um unterrepräsentierten Gruppen eine Bühne zu bieten“, sagt die Netflix-Sprecherin. Auch unterstützt das Unternehmen die Initiative ‚Vielfalt im Film‘ – ein Bündnis zahlreicher Organisationen und Institutionen innerhalb der deutschen Filmbranche.
Sie sind also dran. Die Bewegung ist vor allen in den vergangenen Monaten deutlich spürbar: So sind auf Streaming-Plattformen auffällig mehr Serien mit Ü40-Frauen zu sehen, die durchaus vielschichtige Charaktere verkörpern. Thematisiert werden unter anderem Freundschaften, Erziehung und berufliche Herausforderungen. Vielfalt entpuppt sich als Wirtschaftsfaktor, wie es scheint: „In den vergangenen fünf Jahren ist Netflix stark gewachsen. Umso mehr möchten wir, dass unsere Inhalte repräsentativ für unser zunehmend globales Publikum sind. Deshalb investieren wir in lokal produzierte Inhalte, um unsere Mitglieder weltweit zu erreichen, und arbeiten mit einer großen Anzahl weiblicher Autorinnen, Filmemacherinnen und Showrunnerinnen zusammen“, sagt die Sprecherin. Doch sie räumt ein: „Wir sind stolz, auf unser vielfältiges Programmangebot und die positive Entwicklung in den letzten Jahren. Gleichzeitig wissen wir, dass wir noch viel zu tun haben.“
Mut machen und Bewusstsein wecken
Barbara Rohm ist es wichtig, über Rollenklischees und eindimensionale Darstellungen von Frauen aufzuklären. Ihr Thinktank hat daher die Online-Plattform ‚Sexismus Lexikon‘ gestartet. „Darin wird erst mal sichtbar gemacht, welche Stereotype das jeweils ist und was für Forschung es dazu gibt, welche Tools zur Veränderung existieren, Best-Practice-Beispiele gezeigt und wer an diesen Themen arbeitet.“ Dazu gibt es Online-Veranstaltungen wie den ‚Power Morning‘ und den ‚Transform Evening‘, die durch eine Förderung vom Bundesfamilienministerium möglich sind und allen Interessierten offenstehen.
„Das Rollenbild entwickelt sich: Weg vom schmückenden Beiwerk, hin zu einer Stimme, die gehört werden will“, bringt es die Leipziger Produzentin Anke Kossira auf den Punkt. Barbara Rohm ist davon überzeugt, dass das Publikum in Zukunft viele, innovative und schöne Dinge sehen wird. „Es kann sein, dass wir uns vielleicht im ersten Schritt dran gewöhnen müssen, weil das gegen unsere Sehgewohnheiten geht. Aber darin liegt eine große Chance.“ —
Hinweis: Der Text erschien erstmal im femMit-Magazin 1/2021
Illustration: Adobe Stock / artinspiring
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