Die Frau als zentrale Figur

Wenn wir über Rollenbilder sprechen, haben wir oftmals die im Kopf, die in unserem Umfeld bestehen. In der Rubrik ‚Blick über den Tellerrand‘ schauen wir in andere Länder. Caitriona Mullan schreibt über Nordirland.

Der Brexit und die Pandemie führen zu Bildern mit leeren Regalen im Supermarkt. Nein, wir haben alles Lebensnotwendige. Und könnten auch ohne Probleme nach Irland reisen. Das haben wir uns in den Brexit-Verhandlungen erarbeitet. Keine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Keine Zäune. Keine Checkpoints. Bitte nie wieder Checkpoints. 

Checkpoints heisst Retraumatisierung

Warum? Für uns Nordiren sind die blutigen inneren Auseinandersetzungen noch lange nicht vergessen. Im Grunde genommen leiden wir alle an einem kollektiven Trauma. Was Auswirkungen hat. Wie in jedem Krieg waren es vor allem die Frauen, die dafür sorgten, dass die Familie zusammenhielt. Bis heute gilt in Nordirland die Frau als die zentrale Figur, die sich nicht nur um ihre Kernfamilie, sondern auch um die Gesellschaft kümmert. Sei es mit der Übernahme von Care-Tätigkeiten, oder mit der Organisation karitativer oder sozialer Events. In den Grenzregionen sind es wieder die Frauen, die Verbindungen ermöglicht haben und aufrechterhalten. Das mag in anderen Ländern ähnlich sein. Doch eines ist zu bedenken: Die Generation der Mütter, die ihre Kinder während der Unruhen großzog, leidet sehr unter Traumata. Verursacht durch Gewalt. Auf der Straße. Und zu Hause. 

„Weg von dem politischen Mantra der ‚Identität‘ hin zu einer progressiven Gesellschaft, in der ‚Frauenthemen‘ wie Vereinbarkeiten und faire Bezahlung genauso Platz haben wie eine gerechtere Repräsentation.“

Das große Problem: die Gewaltspirale

Denn Nordirland hat ein Problem mit häuslicher Gewalt. Zwischen Juni 2019 und Juni 2020 zählte die nordirische Polizei mehr als 32.000 Anzeigen. Dass zum Strafbestand häusliche Gewalt seit 2019 auch psychische Gewalt zählt, hat Nordirland dem Druck aus London zu verdanken. Auch, dass die Nordirinnen seit diesem Jahr straffrei abtreiben können – obwohl das die Britinnen schon lange durften. Erst 2018 entschied das oberste britische Gericht, dass die Menschenrechte der nordirischen Frauen durch das Fehlen entsprechender sozial-medizinischen Dienstleistungen verletzt wurden. 

Neue Chancen durch Scharnierfunktion

Nordirland wird sich verändern müssen. Weg von dem politischen Mantra der „Identität” hin zu einer progressiven Gesellschaft, in der „Frauenthemen” wie Vereinbarkeiten und faire Bezahlung genauso Platz haben wie eine gerechtere Repräsentation. Der Fokus sollte nun auf der wirtschaftlichen Entwicklung liegen: Denn mit seiner Scharnierfunktion zwischen UK und EU, mit den noch ungenutzten Ressourcen für grüne Produkte und nachhaltiges Wirtschaften, gäbe es genügend Licht am Ende des Tunnels. Sobald sich hier etwas bessert, könnten auch viele Probleme der Frauen verschwinden.

Caitriona Mullan ist gebürtig aus Derry, Nordirland. Nach dem Studium (B. A./M. A. Mod. Hons History/Irish, University of Dublin, Trinity College) arbeitete sie als Beraterin des irischen Ministers für Soziales, gefolgt von umfangreicher Arbeit in der Entwicklung der Sozialwirtschaft in ganz Irland. Als unabhängige Expertin arbeitet Caitriona als Trainerin für das Centre of Expertise for Good Governance des Europarats, als technische Expertin für die Association of European Border Regions und als Senior Research Associate für das International Centre of Local and Regional Development (ICLRD).  

Hinweis: Dieser Text erschien erstmals im femMit-Magazin 1/2021

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