„Früher wäre es undenkbar gewesen, dass ich als Frau allein den Weg zur Uni gehe.“
von Meret Michel und Katalin Valeš
Nour Alahmad hatte nicht so viel Glück wie ihre beiden Brüder: Als Jugendliche musste sie mit ihren Eltern in Syrien bleiben, wo seit 2011 Krieg herrscht. Ihren zwei Brüdern gelang im Jahr 2015 die Flucht nach Deutschland. Nachkommen war für die junge Frau nicht möglich. Doch Aufgeben war ebenfalls keine Option. Trotz einer schweren Verletzung durch einen Raketenangriff absolvierte sie in Syrien erfolgreich ihr Abitur. Heute studiert die Zwanzigjährige Nachrichtentechnik und Elektronik an der Fakultät für Kommunikations- und Elektrotechnik der Universität Damaskus.
„Ich wollte mehr über die Technologie lernen, die uns Menschen verbindet”, sagt Nour Alahmad. Der Kontakt zu ihr kam über ihre Brüder zustande. Ihren richtigen Namen möchte die junge Frau nicht in einem öffentlichen Magazin lesen, deshalb wurde er für diesen Text geändert. Der Redaktion ist er bekannt. Die Geschichte von Nour Alahmad steht für das Schicksal tausender anderer syrischer Frauen, die in einem von Männern verlassenen und vom Krieg zerrütteten Land ihr Leben meistern müssen.
Wirtschaftlicher Kollaps
Syrischen Forschungsinstituten zufolge verloren seit Kriegsbeginn mindestens 500.000 Menschen ihr Leben, 6,7 Millionen Menschen verließen so wie Nour Alahmads Brüder das Land. Für jene, die zurückblieben, wurde das Leben und der Alltag immer zermürbender. Der wirtschaftliche Kollaps veränderte das Leben und den Alltag auf dramatische Weise. Viele ihrer Kommilitonen und Kommilitoninnen hätten nicht mal einen Laptop und das, obwohl Computer in der heutigen Zeit immer wichtiger werden, erzählt Nour Alahmad. Wer nach dem Studium einen festen Job ergattern konnte, bessert mit Reparaturen von Elektrogeräten den mageren Lohn auf. „Als meine Brüder hier in Syrien studierten, reichte der Lohn meiner Eltern, um sie zu unterstützen”, sagt Nour Alahmad. Heute wäre das undenkbar. Sie ist auf das Geld angewiesen, das ihr die Brüder von ihrem Lohn aus Deutschland schicken. Ohne dieses Geld könnte sie nicht studieren.
Die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation in Syrien ist bedrückend.
Dabei hatte der Protest gegen das Regime von Baschar al-Assad im Jahr 2011 zunächst friedlich begonnen. Doch in den darauffolgenden Monaten und Jahren kam es zu einem blutigen Bürgerkrieg. Millionen Menschen flüchteten vor Bomben- oder Raketenangriffen, junge Männer flohen zudem vor dem aktiven Kriegsdienst in der syrischen Armee, die alle Männer zwischen 18 und 42 Jahren einzog. Für viele ging es dabei nicht nur um ihr eigenes Leben: Sie wollten nicht gezwungen werden, gegen ihre eigenen Landsleute zu kämpfen.
Nour Alahmad wurde im Alter von 14 Jahren bei einem Raketenangriff auf dem Schulweg verletzt. Geschossteile, von denen sie getroffen wurde, verursachten innere Blutungen. Weil diese zu nah an der Wirbelsäule waren, konnte das Mädchen im Krankenhaus nur notdürftig behandelt werden. Um sie zu operieren, fehlte in Syrien die Expertise. Die Familie hoffte auf eine Behandlung in Deutschland – doch die deutsche Botschaft in Beirut lehnte ihren Visumsantrag ab. Die illegale Flucht? Lebensgefährlich. Nour Alahmad blieb. Und konzentrierte sich auf ihre Bildung.
Frauen in der Überzahl
Ihr Abitur absolvierte Nour Alahmad mit über 200 Punkten: „Das ermöglichte mir den Zugang zu allen technischen Fächern”, sagt sie. Die generelle Haltung von Mädchen und jungen Frauen gegenüber technischen Berufen in Syrien scheint eine positive zu sein: „In der Schule wurden wir ermutigt, in technischen Bereichen zu studieren, ohne an irgendwelche Schwierigkeiten zu denken.” Die Frage, ob ihr Studienfach eine Männerdomäne sei, stellt sich nicht. An ihrer Fakultät seien inzwischen die meisten der Studierenden Frauen, sagt Nour Alahmad. Und nicht nur hier: „Etwa drei Viertel an den Universitäten sind Frauen.” Außer in der Medizinischen Fakultät sind sie in sämtlichen Studiengängen der Universität in der Überzahl. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Von den vielen Todesopfern, die der Krieg bis heute gefordert hat, sind laut dem Syrian Center for Policy Research 80 Prozent Männer. Zusammen mit der bis dato größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg hatte dies tiefgreifende Folgen für die Demografie der syrischen Gesellschaft. Zurück blieben die Frauen. Sie sind es, die seither in vielen Familien die alleinige Verantwortung tragen: Laut der UNO-Organisation für Frauen bringen nun in jedem dritten Haushalt Frauen das Haupteinkommen auf – gewaltige Verschiebungen in einem Land, in dem vor dem Krieg nur ein Viertel der Frauen berufstätig waren. Heute sind sie großflächig in Berufen tätig, die früher beinahe ausschließlich Männern vorbehalten waren, wie etwa in Fabriken oder in der Landwirtschaft. Auch an den Universitäten sind deutliche Verschiebungen in der Fächerwahl zu beobachten. Die meisten Familien sind trotz der Berufstätigkeit der Frauen auf Unterstützung angewiesen. Auch Nour Alahmad. Ihr Studium ist für die Syrerin ein Lichtblick in diesen düsteren Zeiten: „Ich studiere Nachrichtentechnik, weil ich das Geheimnis dieses Faches entdecken wollte, mit dessen Hilfe sich die Welt in ein kleines Dorf verwandelt und durch das die Kommunikation zwischen den Menschen erleichtert wird. Kommunikation macht das Leben leichter.” Und alles, was das Leben erleichtert, hilft.
Wirtschaftskrise und Inflation
„Früher fuhr alle fünf Minuten ein Bus”, sagt Nour Alahmad. Weil das Benzin inzwischen sehr viel teurer geworden sei, komme der Bus heute vielleicht noch einmal pro Stunde. Daher geht sie die drei Kilometer von zu Hause bis zur Universität zu Fuß, trotz der Granatsplitter in ihrem Rücken. Als die Familie aus der Provinz Homs für das Studium der Tochter nach Damaskus gezogen ist, hat sie extra eine Wohnung gesucht, die in der Nähe der Universität liegt. „Früher wäre es undenkbar gewesen, dass ich als Frau allein den Weg zur Uni gehe”, sagt sie. Aber zu Fuß zu gehen sei noch immer besser als ein Taxi zu nehmen – denn das sei nicht nur teuer, sondern auch gefährlich: „Immer wieder werden Leute entführt, die allein im Taxi fahren.” Auch das ist eine Folge der wirtschaftlichen Not: Dass Menschen entführt werden, um sie gegen Lösegeld wieder freizulassen.
Die wirtschaftliche Lage Syriens ist heute so schlecht wie noch nie seit Beginn des Bürgerkriegs 2011. Die Infrastruktur wurde durch Bombenangriffe teilweise zerstört. Ganze Wirtschaftszweige sind verschwunden, von den Fabriken der ehemaligen Industriestadt Aleppo zum Beispiel sind viele in die Türkei abgewandert. In den vergangenen drei Jahren hat zudem die Wirtschaftskrise im Nachbarland Libanon die Inflation in Syrien befeuert, was wiederum die Preise von Lebensmitteln und anderen importierten Gütern in die Höhe getrieben hat. Hinzu kamen etwa zur gleichen Zeit neue Wirtschaftssanktionen der USA gegen das Assad-Regime, die die Lage zusätzlich verschärften, weil viele Firmen aus Angst vor dem Sanktionsregime seither nicht mehr nach Syrien exportieren wollen. Und mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich die Situation abermals verschärft. Bereits am Tag nach dem Beginn der Invasion seien die Preise für Lebensmittel gestiegen, erinnert sich Nour Alahmad. Obwohl es auch in Syrien nach wie vor Arbeit gibt für Informatikerinnen und Informatiker, sind die beruflichen Aussichten für sie eher düster. 90 Prozent der syrischen Bevölkerung lebt in Armut. „Ein Beamter verdient heute etwa 100.000 syrische Pfund”, sagt Nour Alahmad. Umgerechnet sind das etwa 30 Euro – gerade genug, um eine Woche über die Runden zu kommen. Neben Lebensmitteln sind auch die Wohnkosten teuer: Nach Jahren des Bürgerkriegs sind Zehntausende von Binnengeflüchteten aus anderen Provinzen in die Hauptstadt Damaskus gekommen, wo auch Nour Alahmad und ihre Eltern heute leben. Während die Menschen in ihren Heimatdörfern und Städten häufig ein Haus besaßen, sind sie in Damaskus gezwungen, eine Wohnung zu mieten. Bedrohlich wird die Situation, wenn dazu Kosten für medizinische Behandlungen anfallen – zum Beispiel für die Behandlung des Vaters von Nour Alahmad, bei dem vor einigen Jahren eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde. Eigentlich sollte die staatliche Krankenversicherung die Kosten der Behandlung und der Medikamente übernehmen. Doch ist es in der Realität mittlerweile viel öfter so, dass zahlreiche Medikamente nicht verfügbar sind. Die Apotheken organisieren sie dann irgendwie auf eigene Faust – bezahlen müssen sie die Patientinnen und Patienten selbst.
Hoffnung auf eine gute Zukunft
Die wenigsten jungen Syrerinnen und Syrer sehen in ihrem Land eine Zukunft. Auch Nour Alahmad hofft, das Land irgendwann verlassen zu können. Doch einfach ist das nicht: Es gibt kaum noch Länder, in die Menschen aus Syrien ohne Visum einreisen können. Viele versuchen, das Land illegal zu verlassen. Die Nachbarländer, vor allem die Türkei, haben ihre Grenzen mittlerweile geschlossen. Der Versuch, sie zu überqueren, ist lebensgefährlich. Ein Risiko, das Nour Alahmad nicht eingehen will. Sie plant vorerst, weiter zu studieren, möchte einen Master machen und vielleicht promovieren. Wo es dann genau beruflich für sie hingehen wird, weiß die Studentin noch nicht: „Es gibt schon noch einige Arbeitsmöglichkeiten für Graduierte, zum Beispiel haben wir staatliche Unternehmen, wie die Syrian Telecom Company oder private Unternehmen wie Syriatel und MTN. Außerdem könnte ich als Kommunikations- und Elektronikingenieurin elektronische Geräte reparieren.” Doch so oder so: Unter diesen harten Bedingungen gibt es eigentlich nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten. Und trotzdem lässt sich Nour Alahmad nicht entmutigen: „Ich liebe meine Familie, ich mache meinen Job und studiere mit vollem Herzen, damit sie stolz auf mich sein können.”
Wenn sie sich selbst einen Wunsch erfüllen könnte, so würde sie endlich die Operation durchführen lassen, die sie bisher immer aufschieben musste. —
Hinweis: Dieser Text erschien erstmal in femMit-Magazin Ausgabe 4
Bilder: privat