Der Code zum Verlassen der Komfortzone
Wahrheit, Gleichheit, Vertrauen. Was klingt wie ein passionierter Schwur, kann in Wirklichkeit ganz nüchtern als Computercode aus Einsen und Nullen gebaut werden: Ece Kubilay ist eine der wenigen Frauen in Deutschland, die Expertinnen für die sogenannte Blockchain-Technologie sind, und damit helfen, Systeme, Werte und Partnerschaften im Bereich der IT aufzubauen und zu schützen. Ein einzelnes Glied in dieser Kette von vielen zu sein, voller Information und Nutzen sowie mit hohem gesellschaftlichen Wert – das schafft für Ece Kubilay ein Gefühl von Zugehörigkeit.
Text: Stefanie Söhnchen
„Bei einem Blockchain-Konstrukt findet sich ein dezentralisiertes Netzwerk aus Gleichgesinnten zusammen, die einander erst einmal nicht vertrauen“, beschreibt Ece Kubilay das Prinzip.
Die Struktur einer solchen Blockchain besteht aus Codebausteinen, die chronologisch aneinandergereiht werden – und jeder dieser Bausteine enthält Informationen zu dem vorhergehenden. Jeder Baustein gibt außerdem Auskunft zu einer Reihe an „Transaktionen“ – gewissen Aufgaben, die durch Teilnehmer:innen an der Blockchain durchgeführt wurden, wie beispielsweise der Austausch von Kryptowährungen.
Das heißt dann: Wenn jemand Änderungen vornehmen will, müssen diese durch alle oder auch eine Mehrheit für richtig und gut befunden werden, damit sie umgesetzt werden können.
Jede Handlung eines Partners oder einer Partnerin im System wird dokumentiert und kann von allen zu jeder Zeit nachvollzogen werden.
Auf diese Art schafft Ece Kubilay aus verschlüsselten binären Bausteinen in mitunter sehr komplexen Situationen Vertrauen. Wenn beispielsweise ein Feuer in einer U-Bahn-Haltestelle ausbricht, kann eine Blockchain genau und objektiv den Hergang des Unglücks und das Verhalten aller Beteiligten für alle Blockchain-Partner:innen dokumentieren:Wann hat der Sensor das Feuer bemerkt? Wann wurde die Polizei alarmiert? Wann hat diese die Feuerwehr eingeschaltet? Wann und welche Krankenhäuser wurden wie beteiligt? Wie hat der Öffentliche Nahverkehr reagiert?
All diese Informationen können dann ohne den kleinsten Zweifel an der Richtigkeit an die Versicherung übermittelt werden, weil alle Beteiligten die Beschaffenheit der Blockchain vorher gemeinsam beschlossen und im Nachgang alle den gleichen Zugriff auf die Informationen erhalten haben – ohne die Möglichkeit, alleine etwas zu ändern.
Dieses Prinzip wird bereits in vielen öffentlichen und privaten Zusammenhängen angewendet – so zum Beispiel in der Lizenzvergabe von Kunst. Durch die Blockchain kann jede:r zu jeder Zeit sehen, wer für was und wie lange Lizenzen erworben hat, und ob sich alle an die Vereinbarungen halten.
Auch in Lieferketten, beispielsweise bei Reis, ist die Verfolgung via Blockchain schon sehr verbreitet: Wer hat wann und wo welche Ware übergeben – und an wen? Die Antworten auf Fragen wie diese zu haben, ist einer der Hauptgründe, warum Ece Kubilay sich in das Thema hineingefuchst hat.
Menschen mit interessanten -Antworten ziehen andere Menschen an
Ein wichtiger Teil einer vernetzten Gemeinschaft zu sein, ist ein weiterer Grund – dieser Wunsch ist tief in ihr verwurzelt: „Ich komme ursprünglich aus der Türkei. Dort haben wir eine sehr gemeinschaftsorientierte Art zu leben. Du bist umgeben von Menschen, wenn du deinen Platz gefunden hast und etwas beitragen kannst. Meine Lebensenergie kommt aus der Vernetzung mit anderen – ohne die bin ich leer“, sagt Ece
Kubilay.
Als sie nach dem Bachelor in der Türkei für ihren Master in Informatik nach München kam und später ihre Masterarbeit beim Fraunhofer-Institut schrieb, war sie wie vor den Kopf gestoßen: In der Türkei war sie immer eine der Top-Studentinnen gewesen – hier fühlte sie sich plötzlich abgehängt, nicht gut genug.
„Ich merkte: Die deutschen Studierenden begriffen schon viel mehr, evaluierten und stellten weiterführende Fragen – ich hatte das Gefühl, durch meine Ausbildung im Ausland musste ich erst einmal aufholen.“
Doch dann kam die Vorlesung zu Blockchain, und der Hörsaal um Ece Kubilay herum murmelte verwirrt vor sich hin, es wurde wild im Internet recherchiert, was es damit auf sich hat.
„Vorher hatte ich das Gefühl, dass alle meine Kommiliton:innen sehr gut in wirklich allem sind. Ich konnte nirgends glänzen. Doch in dem Moment wusste ich: Hier ist meine Nische, hier ist meine Chance, eine Expertin zu sein, zu der andere mit ihren Fragen kommen können.“
Aufbau und Ausbau als Kernaufgabe
Zu dem Zeitpunkt waren einige Blockchain-Varianten – wie beispielsweise die Programmiersprache „Solidity“, auf deren Basis die „Ethereum“-Blockchain läuft – noch wesentlich anfälliger für Fehler.
Das hehre Ziel von mehr Glaubwürdigkeit konnte hier wegen bestehender Schwachpunkte wie Geldverschwinden und Sicherheitslücken noch nicht erreicht werden.
Daher stürzte sich Ece Kubilay genau dort hinein – las tage- und nächtelang alles, was sie zum Thema Blockchain in die Finger bekommen konnte, und schrieb ihre Masterarbeit darüber, wie das System verbessert werden kann.
So wurde sie jenes angestrebte, wichtige Glied in einer großen Kette von Coder:innen, die täglich daran arbeiten, das System zu optimieren. Ece Kubilays Ideen sind nun eingebettet in ein großes Ganzes. Wo vorher die Einsamkeit war, die Frage nach dem Wohin und dem eigenen Wert, entstanden nun die ersten Stufen einer Treppe heraus aus der gefühlten Isolierung, hin zu einer wertvollen Teilhabe an der Gesellschaft.
Doch der Weg ist mühsam.
Und diese Treppe wächst stetig: Ece Kubilay wird zur beliebten Ratgeberin und kann im Anschluss an ihr Studium als Blockchain-Expertin bei einem großen IT-Unternehmen deutschen Firmen auf ihrem Weg zu partnerschaftlich-vertrauensvollen IT-Systemen auf Blockchain-Basis helfen.
„In Deutschland gibt es unheimlich viel Bürokratie und sehr viel ‚Stift-und-Papier‘ -Mentalität“, beobachtet Ece Kubilay bei ihrer Arbeit. Nicht nur bei Firmen, sondern auch bei der Bevölkerung herrscht Skepsis und Zurückhaltung. Das führt zu einer großen Behäbigkeit in der digitalen Transformation und zu sehr langwieriger Überzeugungsarbeit.
„Viele der Entscheider:innen arbeiten mit alten Technologien und haben daher oft ein Verständnis, das sich lediglich darauf bezieht“, beschreibt die Blockchain-Expertin. Daher ist ein großer Teil ihrer Aufgabe, die Funktionsweise und Vorteile der neuen Systeme immer wieder zu paraphrasieren – und zwar in möglichst einfacher Weise, denn was nicht verstanden wird, wird abgelehnt.
Emotionale Intelligenz als Geheimzutat in einer unemotionalen Domäne
Das fällt ihr aber zum Glück nicht schwer: „In meinem Job und Leben brauche ich eine große Übereinstimmung zwischen dem, was ich tue, und wer ich im Kern bin“, sagt die IT-Expertin. Bei ihr bedeutet das, dass sie ihre Fähigkeit, Emotionen einfließen zu lassen, mit ihrem IT-Wissen kombiniert – ein Vorteil in einer von eher rational handelnden Männern geprägten Domäne.
Obwohl es bereits viele Anwendungsgebiete von Blockchain gibt, ist das Thema weiterhin vergleichsweise neu und die Beteiligten sind stetig dabei, weitere Anwendungen zu entwickeln und Potentiale zu entdecken.
Und da kann eine Prise emotionale Intelligenz den Wert von Einsen und Nullen manchmal besser in den Kontext rücken.
„Es ist gar nicht so, dass es in Deutschland keine belastbare, effiziente, zeitgemäße Technologie gäbe – in den meisten Fällen steht uns theoretisch sogar bessere als in anderen Ländern zur Verfügung –, aber die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, ist sehr gering“, schüttelt Ece Kubilay den Kopf, die aus der Türkei eine ganz andere Mentalität bezogen auf Digitalisierung und das Nutzen neuer technischer Möglichkeiten kennt.
So scheint es ihr, dass es den Deutschen eher Angst macht, mittels Blockchain im Bereich Gesundheit oder mit personenbezogenen Daten zu agieren. Personalausweisdaten, Gesundheitsdaten, Führerscheindaten, Impfdaten – all das könnte über das Blockchain-System verschlüsselt in der Verantwortung einer einzelnen Person liegen, die dann ganz gesteuert auf Nachfrage darauf Zugriff zu gewähren.
„Wenn wir uns die Zeit nehmen, diese komplexen neuen Möglichkeiten zu kommunizieren und zu erklären, kann auch hier das volle Potential genutzt werden“, sagt sie.
Und das ist ihre Mission: Ece Kubilay, die sich bereits aus ihrer Komfortzone heraus in einen Strudel aus Fragen, Veränderungen und Möglichkeiten gewagt hat, will alle um sie herum auf diesen Weg mitnehmen.
Sie will durch ihr Wissen und ihre Vision für eine Informationszukunft Mut machen, die ihr Versprechen auf Wahrheit und Gleichheit hält. Eine Eins und eine Null nach der anderen. —
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals im femMit-Magazin Ausgabe 4
Bild: privat