Die Angst fährt mit
Text: Nadja Laske
Wenn diese Gewalt an ihr rüttelt, sammelt Simone Burel ihre Kräfte. Dann besinnt sie sich auf alles, was sie über den Sinnessturm gelernt und erfahren hat. Dass Schwindel und Atemnot, Herzrasen und Schweißausbrüche auf sie zurollen wie eine riesige Welle, hat sie schon Minuten zuvor gespürt. Wohlan, wenn die Wege nicht weit und andere Menschen nicht zu nah sind.
Jahre dauerte das. Doch inzwischen gibt es etwas, worauf sie sich gut verlassen kann: ihr Panikmanagement.
Es erlaubt ihr, in Freiheit zu leben. Zwar anders als all die Menschen, deren Alltag keine schwere Angststörung belastet. Doch immerhin selbstbestimmt und als Herrscherin über eine Macht, die ihr Leben lange beherrschte.
„Schon als Kind hatte ich viele Ängste“, sagt die 34-Jährige. Die Furcht vor Krankheiten, Unfällen, Verlusten und dem Tod beschwerten sie, ohne dass jemand den Grund verstand. Diffuse Schmerzen begleiteten sie, ohne dass jemand ihre Ursachen fand.
Um ihrer Tochter die Todesängste zu nehmen, versagen die Eltern keinen Besuch beim Arzt, keine Untersuchung. So sehr beschäftigt sich Simone Burel mit der Wahrscheinlichkeit ihres baldigen Sterbens, dass sie ihre Mutter bittet, alle Kuscheltiere mögen unbedingt Platz im Sarg finden.
Auf dem Fußballplatz ihres Mannheimer Viertels lässt sich Simone nicht in die Seite grätschen. Sie kickt in einer Mädchenmannschaft. Auch beim Eishockey ist sie die Erste am Puck. „Eher männlich dominierte Sportarten haben mich gereizt“, sagt sie. Auf Bäume klettern und darunter Blumen pflücken, beides gehört zu ihr. Auch Bücher, Barbies, Beauty. „Ich kann mich erinnern, dass es in der Schule Diskussionen gab, weil meine Röcke zu kurz und mein Ausschnitt zu tief sei“, erzählt sie lachend.
Kritik auch wegen der vielen Fehlstunden. „Mir fing der Unterricht einfach zu früh an. Zur ersten Stunde war ich noch völlig im Taumel.“ Was nicht bedeutet, dass Simone Burel Schwierigkeiten mit dem Lernstoff gehabt hätte. Als überaus ehrgeizig, kontrolliert und bestens organisiert hat sie sich in Erinnerung. Entsprechend hervorragend fällt ihr Abitur aus. Bestmöglich zu sein, um sich alle Optionen der beruflichen Entwicklung offen zu halten, ist ihr Plan.
So geht sie als Erste der Familie zum Studium. „Eigentlich wollte ich Tierärztin werden.“ Doch ein Schülerpraktikum zeigt ihr: Die Vorstellung, mit Leid und Tod der Tiere umzugehen, ihr Lebensende vielleicht sogar herbeiführen zu müssen, bestürzt sie zutiefst. „Irgendwann eröffne ich mal ein Katzencafé“, sagt Simone Burel. Ein Ort, an dem streunende Katzen ein Zuhause und Menschen ein warmes, weiches Fellknäuel auf dem Schoß genießen. Davon träumt sie.
In der Realität aber ist die Familienkatze ihrer Jugend mit stolzen 19 Jahren vor nicht allzu langer Zeit gestorben und Simone Burel hat reichlich mit der Konsequenz ihrer tatsächlichen Berufswahl zu tun. Sie ist Linguistin geworden. Nicht aus der Fehleinschätzung heraus, das sei ein passendes Studium für jemanden, der gern liest. Sondern weil die Sprache, ihre Wissenschaft und alles, was sie bewirken kann, sie reizt.
Nach ihrem Studium in Mannheim, London und Heidelberg promoviert sie und nimmt eine Anstellung in der Leitung der Unternehmenskommunikation eines Finanzdienstleisters an. Das hierarchische Arbeitsumfeld empfindet sie als beengend, hinderlich, sogar toxisch. Ein Burnout kippt sie von der Sprosse der Karriereleiter und zwingt sie, nach der Genesung ganz neu über ihre künftige Arbeit nachzudenken.
Sinnvollerweise aber hatte sie mit ihrer Doktorarbeit und den linguistischen Forschungen dazu bereits eine wichtige Stufe besagter Leiter erklommen: In ihrer Dissertation untersuchte sie die Sprache der DAX-Unternehmen und erhielt mehrere Stipendien für weitere wissenschaftliche Analysen.
Heute führt sie ihr eigenes Unternehmen und ist an einem weiteren beteiligt, zudem Investorin und Beirätin verschiedener Start-ups. Vor sechs Jahren gründete sie die erste linguistische Unternehmensberatung LUB Mannheim, deren Expertise es ist, Schwachstellen im Sprachgebrauch von Unternehmen aufzuspüren und jedwede Wortwahl so zu modifizieren, dass sich Kund:innen, Partner, Mitarbeiter:innen, Bewerber:innen besser angesprochen fühlen.
Zusammen mit ihren 15 Mitarbeitenden durchkämmt sie Texte auf Websites, in Geschäftsberichten und Präsentationen und spürt Widersprüche auf, die zwischen Gesagtem und zu Sagendem klaffen. Ziel ist es, Glaubwürdigkeit zu schaffen, Authentizitä t zu erhöhen und Emotionen zu regulieren. Simone Burel coacht Führungskräfte und solche, die es werden wollen, forscht, publiziert und referiert. Das alles mit großem Erfolg.
Und eine solch taffe Frau hat Angst? Ihren Alltag zerfetzen in regelmäßigen Abständen Panikattacken, deren Bewältigung einer Strategie bedürfen.
Die kindliche Furcht vor Krankheit und Tod hat sich im Teenageralter zu einer Panikstörung entwickelt. Sie äußern sich physisch. Sie nehmen den gesamten Körper in Besitz, schütteln und würgen ihn bis zur Ohnmacht. Simone Burel sagt: „Man denkt, man stirbt.“
Inzwischen weiß sie, dass diese Krankheit seelische und körperliche Ursachen haben und ein Anfall bis zu 30 Minuten dauern kann, dass es Therapiemöglichkeiten gibt und sie sie im Griff zu behalten vermag. „Schlimmere Attacken erlebe ich etwa alle zwei Monate und dazwischen kleinere.“
Manchmal genügt es, beiseite zu gehen, ein Meeting vorübergehend zu verlassen, während eines Vortrages eine Pause einzulegen. Anderenfalls erfordert der Angriff mehr Kraft und Besinnung auf sich selbst. Viele Male hat sie auf Standstreifen um innere Ruhe gerungen. „Die Angst fährt immer mit“, sagt sie. „Schlimmstenfalls muss ich, so schnell es geht, nach Hause. Meine vertraute Umgebung tut mir am wohlsten.“ Bewegung hilft dabei, zu entspannen und das Adrenalin abzubauen, das ihren Körper flutet. „Manchmal hüpfe ich oder ich tanze.“
Als Simone Burel begann, unter anderem in Vorträgen über ihre Panikstörung zu sprechen, sorgte sie sich um Akzeptanz in der Öffentlichkeit. „Aber ich habe überwiegend gute Erfahrungen gemacht“, sagt sie. Freund:innen, Kollegen:innen, Kunden:innen bringen ihr Verständnis und Wertschätzung entgegen.
Betroffene fühlen sich durch sie gesehen, sind dankbar dafür und geben entsprechend Rückmeldung. „Ich will Lebensmut geben und Sichtweisen ändern“, sagt Simone Burel. Andere Menschen mit Angst- und Panikstörungen will sie dazu motivieren, kein Geheimnis aus ihren Schwierigkeiten zu machen und sich womöglich auf Vermeidungen zu verlegen.
Das sei das Tückische an Angststörungen: Dinge zu vermeiden, Aufgaben nicht zu übernehmen, vor lauter Angst, eine Attacke könnte zur Unzeit kommen.
„Ich wollte nicht hinnehmen, dass die Krankheit mein Leben bestimmt, mir die Freiheit nimmt, mich dazu bringt, Dinge nicht zu tun.“ Ihre Angst hat Simone Burel auch als Katalysator erkannt. „Sie treibt mich an, zu verstehen, was mit mir passiert und das Beste für mich herauszufinden.“
Dadurch kann sie beruflich wachsen und mutig sein. „Ich weiß: Es kann nichts so schlimm sein, wie eine Panikattacke.“
Dazu gehört ihre Selbstständigkeit. Für Simone Burel ist sie mehr als eine freie Form des Broterwerbes. „Das ist eine Lebensform, die es mir ermöglicht, meine Bedürfnisse und Besonderheiten mit der Existenzsicherung zu verbinden.“ Ihre Kreativität braucht festen Boden und weiten Himmel. Vor 10 Uhr ist sie nicht im Büro oder bleibt gleich mit dem Laptop im Bett – und niemand wirft ihr vor, dass die erste Stunde schon um halb acht begonnen hat. —
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals im femMit Magazin 1/2021
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