Die Matka Polka will nicht mehr

Wenn wir über Rollenbilder sprechen, haben wir oftmals die im Kopf, die in unserem Umfeld bestehen. In der Rubrik ‚Blick über den Tellerrand‘ schauen wir in andere Länder. In Polen gehen die Frauen auf die Straße, um sich gegen eine Veränderung im Abtreibungsrecht zu wehren. Iwona Reichardt verfolgt die Entwicklungen.

Matka Polka – die polnische Mutter! Das Ideal der polnischen Frau. Generationen von Polinnen wurden erzogen, Mutter und Heldin zu sein. Eine Heroin, die tapfer alles erträgt und keine Anerkennung verlangt. 

Ertrage alles – sage kein Wort!

Das Rollenmodell geht auf die historischen Erfahrungen der Teilung Polens, zweier Kriege im 20. Jahrhundert und das kommunistische Systems zurück. Ein Konzept, das mit Entbehrungen verbunden ist, das Opfer und außergewöhnliche Kraft verlangt. Es ist kein Wunder, dass die Pandemie die Idee der tapferen polnischen Mutter in den Vordergrund stellte. So war es selbstverständlich, dass bereits während des ersten Lockdowns die Frauen arbeiteten, ihre Kinder unterrichteten, die Gebrechlichen pflegten und in der Nacht Masken nähten. Auch die Zahl der häusliche Gewalttaten stieg, nicht jedoch die Hilfe für die Opfer. Die Frauen litten alleine. Das mag in anderen Ländern ähnlich sein. Der Unterschied ist, dass die polnische Regierung die Pandemie dazu nutzte, den bisher legalen Schwangerschaftsabbruch fast vollständig zu verbieten. Es begann im Frühjahr 2020, als Pro-Life-Aktivist:innen zusammen mit der mächtigen extremistischen Organisation Ordo Iuris das „Stoppt die Abtreibung“-Gesetz ins Parlament einbrachten. Das Gesetz scheiterte in der Abstimmung. Doch es sendete ein Signal an die Frauen: Eure Rechte sind in Gefahr! Viele Frauen drückten ihre Wut aus, indem sie schwarze Regenschirme, Symbole früherer Frauenproteste, aus den Fenstern und von Balkonen hängten.

„Um für ihre Rechte zu kämpfen, gingen Frauen auf die Straße, trotz der Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus.“

Nach dem Scheitern im Parlament benutzten die Abtreibungsgegner das stark politisierte Verfassungsgericht, um Schwangerschaftsabbrüche bei fötalen Fehlbildungen für verfassungswidrig zu erklären. Seitdem ist der legale Schwangerschaftsabbruch in Polen fast nicht mehr existent. Die Wut ist groß. Mehr als zwei Drittel (73 %) der Gesellschaft sind laut repräsentativen Umfragen dagegen. 

Erbitterter Widerstand seitens der Frauen

Um für ihre Rechte zu kämpfen, gingen Frauen auf die Straße, trotz der Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus. Seit Oktober haben die Frauenproteste verschiedene Formen angenommen. Die größten Kundgebungen fanden in Warschau statt, an ihnen nahmen jeweils etwa 100.000 Menschen teil. Auch in Kleinstädten und selbst in traditionell konservativen Regionen gibt es Demonstrationen, die die Polizei mit Gewalt zu unterdrücken versucht. Wir wissen noch nicht, wie sich die Situation entwickeln wird. Aber das Ausmaß der Proteste und die Entschlossenheit der Beteiligten zeigt: Das Ideal der Matka Polka scheint ausgedient zu haben.

Iwona Reichardt ist stellvertretende Chefredakteurin der englischsprachigen Zeitschrift „New Eastern Europe“. Sie hat einen Doktortitel in Politikwissenschaft und setzt sich für Frauenrechte in Polen ein, insbesondere für Frauen, die in der Außenpolitik arbeiten. 

Hinweis: Dieser Text erschien erstmals im femMit-Magazin 1/2021

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