„Ich habe die Pappwand durchbrochen“

Das Kopftuch ablegen und ganz neu beginnen – klingt für Außenstehende einfach, hat oftmals aber einen sehr ­hohen Preis. Welche innerliche Zerrissenheit ­dieser Wunsch nach Selbstbestimmung und einer freien ­Zukunft mit sich bringt, beschreibt Ayla Işik in ihrem Buch ­„BeHauptet: Als Muslimin zwischen ­Sicherheit und Freiheit“.

Interview: Romina Stawowy

Gab es für dich einen entscheidenden Punkt, an dem du entschieden hast, deine Geschichte aufzuschreiben?

Ich habe während der ganzen Jahre in der Ehe, und als mein innerer Konflikt losging, gehofft und gebetet, dass mir ein Buch in die Hände fällt, welches mir Antworten liefert, meinen Schmerz lindert und mir Trost schenkt. Ein Buch, das mir sagt, es wird alles gut, auch wenn´s jetzt nicht gut ist. Aber es gab dieses Buch nicht und für mich war diese Tatsache einer der Hauptgründe, warum ich schon viele Jahre zuvor entschied, selbst eins zu schreiben. Bis es allerdings so weit war, hat es nicht nur einige Türen gebraucht, die erst aufgehen mussten, sondern auch einiges an innerer Überwindungsarbeit.

Man könnte meinen, dass sich deine Geschichte nur in muslimischen Familien oder in der türkischen Community abspielt. Ist dem so?

Interessanterweise ist dem überhaupt nicht so. Als ich anfing, das Buch zu schreiben und immer wieder mit meiner Lektorin, die in einer katholischen Familie groß geworden ist, ins Gespräch kam, wurde mir schnell klar, dass sich meine Erfahrungen nur in den Punkten von anderen Lebensgeschichten unterscheiden, wo es um klare religionsbezogene Faktoren geht. Das Kopftuch zum Beispiel. Ansonsten sind solche Strukturen überall dort zu finden, wo es um Machterhaltung, patriarchale Systeme und orthodoxe Religionspraxis geht.

„Die Trennung von meinen Kindern hingegen hat mich emotional so an meine Grenzen gebracht, dass ich rückblickend sage, ich hätte bis zu diesem Zeitpunkt niemals für möglich gehalten, dass ich diesen Schmerz überleben kann.“

Ayla Işik

Was bedeutet das konkret?

Es zeigt einerseits auf, dass wir alle genauer hinschauen sollten, wo wir im Leben stehen, welche Werte wir unsere eigenen nennen können und besonders, für welche wir einstehen und kämpfen. Und andererseits macht es deutlich, dass jeder Frau, unabhängig welchen Glaubens, Alters und Wohnortes, selbes oder ähnliches widerfahren kann. Mich hat die Auseinandersetzung mit der Trennung von meinem Ex-Mann und davon, erst mal alles Religiöse in Frage zu stellen, dahin gebracht, dass ich meine bisherigen Vorstellungen über Ehe, Glaube oder meine Rolle als Ehefrau und Muslima aus einer völlig neuen Perspektive betrachten konnte. 

Die Trennung von meinen Kindern hingegen hat mich emotional so an meine Grenzen gebracht, dass ich rückblickend sage, ich hätte bis zu diesem Zeitpunkt niemals für möglich gehalten, dass ich diesen Schmerz überleben kann. Aber ich habe überlebt. Und das Gute an der Sache war, wenn man hier überhaupt von „gut“ sprechen kann, dass ich für mich das Muttersein komplett neu definieren musste. Heute sehe ich in meiner Mutterrolle meine größte Aufgabe darin, meinen Kindern das Leben auf eine authentische Weise vorzuleben. Dazu gehören sowohl die vielen Erfahrungen, die ich besonders nach der Trennung erlebt habe, als auch mein eigener innerer Reifungsprozess. Und beides trägt dazu bei, dass ich meinen Kindern eine gute Lebensberaterin geworden bin. Ein wenig vergleiche ich mein Leben mit dem Film „Truman Show“. Ich habe für mich diese Pappwand durchbrochen und durfte kennenlernen, was alles noch dahinter möglich ist. Wenn meine Kinder eines Tages ebenfalls diese Wand durchbrechen oder vielleicht sogar durchbrechen wollen, wissen sie, dass ich ihnen beistehen kann. Denn so, wie in den Jahren meiner Jugend das Internet in den Kinderschuhen steckte, leben wir nun in einer Zeit, in der der Jugend die Welt digital erschlossen ist. Hier nützen also die besten Tarn- und Schutzversuche nicht, wenn es darum geht, die Vielfalt des Lebens, Denkens und Glaubens anderen vorzuenthalten. 

Wie stehst du heute zu deinem Glauben?

Mein Glaube ist ein fester Dreh- und Angelpunkt in meinem Leben und ist ganz besonders für eine Sache verantwortlich: Vertrauen. Ich bin die letzten Jahre durch so viele Tiefphasen marschiert, aber es war immer das tiefe Vertrauen in Gott, das mich wieder aufstehen und weitermachen ließ. Für mich gibt es deshalb kein „schlecht“, sondern ein „weniger gut“, das mir mit Geduld und Zuversicht zur richtigen Zeit schon die Antworten aufzeigen wird.

Was war für dich der schönste und was der schrecklichste Moment, den du mit deinem Buch in Verbindung bringen kannst?

Die schönsten Momente erlebte ich erst mal während der Schreibphase, wenn ich zum Beispiel wusste, dass mich das Aufschreiben der Ereignisse in meinem Heilungsprozess weiterbringen wird. Später dann die Reaktionen auf das Buch, die bisher durchweg positiv waren. Schrecklich war für mich eigentlich nur eine Sache: die Reaktion meines Ex-Mannes, der weder dem Buch noch mir eine Chance gab. Stattdessen erklärte er mich zu seinem Feind und zog alle rechtlichen Mittel, die ihm zur Verfügung standen – das volle Register. Mit der Konsequenz, dass nicht nur das Buch unter Pseudonym erscheinen musste, sondern auch ein deutsches Gericht entschied, dass ich nach allem, was geschehen war, für meine Kinder, die seit der Trennung bei ihm geblieben sind, Unterhalt zahlen muss.

„Meine Geschichte zeigt im Kern einerseits den Wert eines selbstbestimmten Lebens auf, und andererseits ist sie eine Einladung zum Umdenken, ein Angebot für einen Perspektivwechsel und Trost.“

Ayla Işik

Wenn du einen Wunsch hättest, was wäre für dich das Wichtigste, was du mit deinem Buch erreichen möchtest?

Ich wünsche mir, dass wir Menschen auf andere Menschen mit Interesse zugehen und in der Vielfalt unserer Geschichten eine Chance sehen, um mit gegenseitigem Verständnis auf Grundlage von Respekt und Wertschätzung einander zu begegnen. Meine Geschichte zeigt im Kern einerseits den Wert eines selbstbestimmten Lebens auf, und andererseits ist sie eine Einladung zum Umdenken, ein Angebot für einen Perspektivwechsel und Trost.

Noch eine letzte Frage. Seit Wochen kämpfen Frauen im Iran um ihre Rechte und ein sehr großer Teil der Welt steht solidarisch hinter ihnen. Wo siehst du die größten Schwierigkeiten?

Die Situation im Iran ist exemplarisch dafür und zeigt auf, was passiert, wenn Zwang und Macht durch religiöse Mittel rechtfertigt werden. Die Frauen im Iran sind stark und werden ihren Kampf gewinnen, und weil der Preis für den Sieg leider so unverhältnismäßig hoch ist, wird jedes Gramm Leid, das aktuell von ihnen erfahren wird, dafür sorgen, dass ihre inneren Kräfte, ihr Ethos und ihr Verantwortungsbewusstsein tief verwurzeln und die kommenden Generationen vor diesem Leid geschützt werden. Was ich allerdings schade finde, ist, dass in Deutschland ähnliches Leid geschieht und hier nicht hingesehen wird, weil es größtenteils nicht sichtbar ist. Nämlich dann, wenn es darum geht, junge Mädchen zu empowern und sie für Selbstbestimmung zu sensibilisieren. —

Ayla Işik ist 1982 in einer deutschen Kleinstadt geboren und stammt aus einer religiösen Familie. Bis zu ihrem 33. Lebensjahr praktizierte sie pflichtbewusst ihre Religion, den Islam. Als sie anfing, kritische Fragen zu stellen und Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, begann eine schwierige Phase, die sie psychisch und physisch an ihre Grenzen brachte. Von ihrer Community ausgegrenzt, begann sie ein völlig neues Leben. „BeHauptet: Als Muslimin zwischen Sicherheit und Freiheit“ ist ihr erstes Buch.

Foto: Annika Fußwinkel

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