Das sind keine Lücken, das sind Erfahrungen!
von Andrea Hansen
Die Lücke im Lebenslauf – was soll das eigentlich sein? Jessica Staschen kann mit dem Gedanken dahinter wenig anfangen, er ist ihr zu defizitär. Sie findet, dass Erfahrungen, die wir abseits von geraden Lebenslinien sammeln, nicht genug geschätzt werden: Umwege zu nehmen, hat einen Wert, der viel zu oft verkannt wird.
Jessica Staschens Woche ist voll. Sie hat drei Kinder, eine Führungsposition in einer großen deutschen Stiftung, einen Mann, der voll berufstätig ist. und joggen geht sie auch noch – da kann es schon mal 20:30 Uhr werden, bis sich eine Lücke im Kalender für ein Interview findet. Sprechen wollen wir über ihre Lücke im Lebenslauf: ein halbes Jahr mit Mann Björn, Sohn Lasse und VW-Bulli Phillis durch Europa. Sie wollten das immer schon machen und als ein vierjähriger Auslandsaufenthalt zu Ende ging, passte es perfekt: „Wir fanden es komisch, unser Leben in London hinter uns zu lassen und uns sofort in das nächste Leben in Hamburg zu stürzen.“
Sohn Lasse war erst ein knappes Jahr alt, Jessica damals noch freie Journalistin, ihr Mann Auslandskorrespondent, mit der Chance auf ein Sabbatical für sechs Monate. Also wurde das alte Leben in Kisten gepackt und auf dem Dachboden der Schwiegereltern geparkt: „Wir hatten noch kein Haus abzubezahlen und mussten keine Angst haben, nach unserer Rückkehr ohne Job dazustehen.“ Die Entscheidung hat sich für die beiden nicht so groß angefühlt. Es galt, schlicht nicht mehr nur davon zu reden, sondern es zu machen.
Im Umfeld gab es keine Bedenkenträger – im Gegenteil. Jessicas Eltern kamen sogar mit ihrem Campingbus unterwegs zu Besuch. Doch die meiste Zeit verbrachten die drei allein: „Für Lasse war das sehr besonders. Er war ein halbes Jahr 24/7 nur mit uns zusammen – und wir mit ihm.“ Heute erinnert sich Jessica vor allem an das Ritual ihres kleinen Sohnes, wenn sie mal wieder auf einem neuen Campingplatz angekommen waren: „Wir hatten so ein kleines Bobby-Car dabei. Das musste immer als Erstes raus. Die Heckklappe vom Bulli ging hoch, er sah das kleine gelbe Auto – kein rotes – und sagte ‚Bicawa‘ – und dann hat er die neue Umgebung erkundet.“
Alte Strukturen passen nicht zu neuen Erfahrugen
Diese Offenheit, auf neue Dinge zuzugehen, haben sich die Staschens in Hamburg erhalten. Was von außen wie ein Bruch wirken könnte, war für Jessica und Björn eine logische Folge: Nach London zu gehen, war eine Zäsur. Sie kannten niemanden, hatten keine Routinen über Freundschaften oder den Sportverein – und so haben sie sich gemeinsam neue Abläufe aufgebaut. Das halbe Jahr Auszeit hat ihre Anpassungsfähigkeit als Familie dann nur noch gestärkt: „Wir wissen einfach, wenn es den dritten Tag in Folge irgendwo regnet, dann bleiben wir da nicht. Dann packen wir ein und fahren irgendwo hin, wo die Sonne scheint.“
Und das gilt auch im übertragenen Sinne. Ob es eine Folge dieser sechs Monate ist, kann Jessica nur vermuten, doch eins macht sie heute anders: „Ich sehe schneller und klarer, wann es gut ist, etwas loszulassen.“ Die Rückkehr zu einem früheren Arbeitgeber hat ihr das gezeigt. Dort warteten die alten Strukturen und zeigten ihr schnell, dass ihre neuen Erfahrungen nicht zählten: „Da musste man jeden Tag wieder beweisen, dass man verdient, dort zu sein. Stichwort Haifischbecken. Ich habe ganz fix die Reißleine gezogen.“ Sie weiß, dass Arbeit und Leben auch anders funktionieren: „Mit drei kleinen Kindern ist mir meine Zeit für vieles einfach zu schade, das ich früher ausgehalten hätte.“
Nach dem Ende ihrer Europa-Tour haben beide als Redakteure gearbeitet – Björn beim Sender und Jessica in einer Produktionsfirma: „Der Chef verstand diese Idee, von Kopf frei kriegen und Horizont erweitern wollen. Er verbrachte jeden Sommer die gesamten Ferien mit der Familie.“ Erst bei späteren Bewerbungen hat Jessica Staschen darum darüber nachgedacht, wie sie mit ihrer vermeintlichen Lücke im Lebenslauf umgehen will. Sie hatte in England frei gearbeitet, da ließ sich das halbe Jahr leicht kaschieren. Heute würde sie es offen in den Lebenslauf schreiben: „Ich bin stolz darauf, dass wir als Familie ein halbes Jahr im VW-Bus unterwegs gewesen sind.“
Größere Löcher in Lebensläufe als ein halbes Jahr im Bulli, reißen für Jessica in Deutschland sowieso Erziehungszeiten. Mit einem Kind, das noch relativ klein ist, ließe sich die Idee, man könnte so weiter leben wie vorher, noch eine Weile aufrecht erhalten. Innerlich fühle man sich getrieben, genauso weiter zu arbeiten wie vorher: „Aber das ist völliger Quatsch, es funktioniert auf Dauer eh‘ nicht: „So flexibel und frei wie vorher, ist man nicht mehr. Und das ist auch okay.“ Bei ihr führte das Elternwerden dazu, dass sie fokussierter wurde: „Ich habe schneller Entscheidungen getroffen und noch effizienter gearbeitet.“ Nichts gegen die Tasse Kaffee mit Kollegen, aber sie konnte Dinge nicht länger in die Abendstunden verlagern. Da wäre auch keine Zeit gewesen, weil zu Hause Lasse mit seinen Zwillingsgeschwistern wartete. Die Qualitäten, die man mitbringen müsste, wenn man das alles handeln könnte, würden von anderen oft nicht richtig eingeschätzt. Die Wahrnehmung sei eher problemorientiert: „Die kommt um 8, was die in den anderthalb Stunden, bis ich im Büro ankomme, gemacht hat, kann ich nicht nachvollziehen. Und um 16 Uhr ist sie schon wieder weg.“ Es werde nicht geguckt, was man in der Zeit schaffe, sondern wie lange man da sei.
Lineare Lebensläufe sind eine deutsche Unart
Viele Rahmenbedingungen findet sie hierzulande einfach nicht familienfreundlich. Der Wille und die Flexibilität seien (zumindest vor zehn Jahren) noch nicht da (gewesen): „Viele meiner Freundinnen hätten bestimmt andere Karrieren gemacht, wenn sie keine Kinder bekommen hätten.“ Letztlich redeten wir über irgendwas zwischen fünf und sieben Jahren, in denen Eltern nicht exakt so einsetzbar seien wie Kinderlose. Dafür, dass beide eine Karriere behalten können, müssen sie an einem Strang ziehen – bei Jessica und Björn ist das so.
Es sei auch heute immer noch keine Selbstverständlichkeit, dass Männer sich genauso in die Familienarbeit einbringen wie Frauen. Aber selbst mit guter Organisation und Teamwork bleibe es schwierig: „Mir fehlt die Unterstützung der Gesellschaft für berufstätige Familien.“ Jessica ärgert, dass Kinderhaben in Deutschland im Job wenig Wertschätzung als „social skill“ erfahre – anders als im englischsprachigen Raum oder in Skandinavien.
Und überhaupt findet sie: Wer nur für den Beruf lebt, damit aber nicht glücklich ist, habe doch auch Lücken im Lebenslauf – nur andere als sie. Doch irgendwie sähen das hierzulande nur wenige: „Bei meinem vorletzten Arbeitgeber ist es mir zum ersten Mal anders ergangen. Ich habe erfahren, dass eine Kollegin im Bewerbungsverfahren zu meiner späteren Chefin gesagt hat: Die hat drei Kinder und es geschafft, sich hier zu bewerben. Die muss organisiert sein, die kannst du nehmen.“ Aber die Frau hatte auch selbst zwei Kinder.
Die Sache mit den linearen Lebensläufen sei eh eine deutsche Unart. Wir formulierten unsere Lebensläufe jedes Mal neu, als ob das ganze Vorleben eine logische Hinführung auf diese eine Bewerbung gewesen wäre. Man erzähle im Prinzip jedes Mal eine andere Geschichte von Herausforderungen und Entbehrungen, die einen perfekt für diese Stelle formen würden: „Ich glaube, dieses Orchestrieren ist eine Illusion, die in die Irre führt. Man kann einen Job auf vielen Wegen erreichen. Eine Karriere ist in Großbritannien beispielsweise nicht nur als Linie denkbar. Da ist der Richtungswechsel ein Beweis für Flexibilität und kein Beleg dafür, dass man sich nicht entscheiden kann“. —