Stille Sprache – Eine Welt ohne Worte

Wenn zwei Menschen ins Gespräch kommen, stehen zunächst das Gesprochene und Sichtbare im Vordergrund: Augen und Mund, Haut und Hände, Haare und Kleidung. Was wir nicht sehen können, sind die inneren Prozesse und Emotionen, die sich parallel im Körper abspielen. Dirk Eilert nennt dies „die Welt der stillen Sprache“ – die Mimikresonanz. femMit sprach mit dem Wirtschaftspsychologen und Experten für Mimik- und Körpersprache darüber, warum uns das Wissen über unsere Gefühle im Alltäglichen helfen kann und wie wir ein Gefühl für die nonverbale Sprache erhalten.

Interview: Sümeyye Algan

Wie kann man Mimikresonanz erklären? 

Dirk Eilert: Mimikresonanz ist im Kern eine Fähigkeit, mit der wir alle geboren werden, die wir im weiteren Verlauf des Heranwachsens aber meist wieder „verlernen“, oder die zumindest „einstaubt“. Mimikresonanz bezeichnet die Fähigkeit, unbewusst in Resonanz mit der Mimik anderer Menschen zu gehen. Aufbauend auf diesem Prinzip habe ich das Mimikresonanz-Konzept entwickelt. Ein Training, um zu lernen, die stille Sprache von Mimik und Körper präzise und ausgerichtet an den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu lesen.

Eine Fähigkeit übrigens, die uns im Leben verwurzelt fliegen lässt – wenn wir sie als Baby und Kleinkind bei unseren Eltern erlebt haben. In den ersten Lebensjahren entwickeln wir nämlich aufgrund der Erfahrungen mit unseren wichtigsten Bezugspersonen ein bestimmtes inneres Bindungsmuster. Ein Aspekt für die Entwicklung einer sogenannten sicheren Bindung ist die Feinfühligkeit der Eltern. Diese ist dadurch definiert, dass sie die Signale ihres Babys erkennen, richtig interpretieren sowie angemessen und prompt darauf reagieren. Als Erwachsene beeinflusst unser inneres Bindungsmuster die Erwartungen und die Bedürfnisse, mit denen wir in unsere Beziehungen gehen.

Ein sicheres Bindungsmuster sorgt dafür, dass wir eine gesunde Empathie entwickeln, unsere Gefühle regulieren können und emotional resilient auf die Herausforderungen des Lebens reagieren. Die gute Nachricht ist, dass Bindung keine stabile Eigenschaft, sondern ein dynamisches inneres Modell ist. Das heißt, sie kann sich durch neue Beziehungserfahrungen verändern. Das macht Mimikresonanz zu einer enorm wichtigen Fähigkeit – auch fern unserer familiären und privaten Beziehungen, z. B. in der Führung oder im medizinisch-therapeutischen Bereich. 

„Wir leben aktuell in einer Zeit, in der es 
normal ist, dass wir im Restaurant mehr ins Handy schauen als in das Gesicht unseres Gegenübers. Eine Zeit, in der jeder Zehnte nach eigenen Angaben sagt: Ich habe Probleme, meine eigenen Gefühle zu benennen und zu beschreiben.“
Dirk Eilert

Warum ist Mimikresonanz so wichtig? 

Wir leben aktuell in einer Zeit, in der es normal ist, dass wir im Restaurant mehr ins Handy schauen als in das Gesicht unseres Gegenübers. Eine Zeit, in der jeder Zehnte nach eigenen Angaben sagt: Ich habe Probleme, meine eigenen Gefühle zu benennen und zu beschreiben. Unsere Studien zeigen, dass durchschnittlich jeder zweite Gesichtsausdruck falsch interpretiert oder übersehen wird. Die Forschung hat ebenso gezeigt, dass in Zeiten der zunehmenden Digitalisierung ein übermäßiger Medienkonsum die Empathie hemmen kann. Deswegen halte ich es für enorm wichtig, dass wir wieder lernen, die Emotionen bei anderen wie auch bei uns selbst richtig zu erkennen und ebenso zu lernen, angemessen damit umzugehen.

Warum fällt uns das so schwer? 

Zum einen ist – wie gerade erwähnt – die durchschnittliche Fähigkeit, mimische und körpersprachliche Signale richtig zu deuten, eingestaubt. Zum anderen, weil es Mut zur emotionalen Aufrichtigkeit braucht, die eigenen Emotionen, aber auch die des Gegenübers zu erkennen und sich zu trauen, sie an- bzw. auszusprechen. Wenn wir das allerdings regelmäßig machen, wird es mit der Zeit zur Gewohnheit.  

Und wie schaffe ich das?

Hier hilft es, sich anfangs kleine „Inseln der emotionalen Aufrichtigkeit“ zu suchen, um in einem geschützten Rahmen die Bandbreite der Emotionen, wie Angst, Freude, Trauer, Scham oder Ärger, anzusprechen und gleichzeitig zu verstehen, dass Emotionen alles in und um uns steuern.

Angst und Trauer sind Gefühle, die kaum jemand gern fühlt oder eher von sich schiebt. Warum sind sie dennoch wichtig?  

Wenn man versteht, dass Angst durch eine empfundene körperliche oder psychische Bedrohung ausgelöst wird und gleichzeitig die Funktion besitzt, diese Bedrohung zu vermeiden oder einen erwarteten Schaden zu reduzieren, bekommt Angst eine andere Bedeutung. Hinter der Angst steht ein Sicherheitsbedürfnis. Das gleiche Prinzip findet sich auch bei Trauer. Bei einem empfundenen Verlust von etwas Wertvollem werden wir traurig. Trauer ist einerseits ein Hilferuf, andererseits möchten wir unsere Ressourcen wiedererlangen. Das dahinterstehende Bedürfnis ist das Bewahren unserer Werte. So gesehen arbeiten Emotionen nie gegen, sondern stets für dich. 

Ist unser Bauchgefühl auch so eine Emotion? 

Was umgangssprachlich als Bauchgefühl bezeichnet wird, bezeichnen wir in der Psychologie als Intuition. Intuition im Sinne eines rasch im Bewusstsein auftauchenden Urteils, dessen Hintergründe uns nicht ganz verständlich sind und das gleichzeitig stark genug ist, dass wir danach handeln. All diese Kriterien können auch auf unsere Emotionen zutreffen: Sie entstehen plötzlich und unbewusst, und wenn sie eine bestimmte Intensität erreichen, leiten sie eine Handlung ein. Sodass wir sagen können, dass bei einem „Bauchgefühl“ emotionale Prozesse einen starken Einfluss haben. 

Kann man Gefühlen überhaupt gerecht werden, wenn man sie in „positiv“ oder „negativ“ einteilt?

Wenn wir von positiven oder negativen Emotionen sprechen, dann suggeriert das, Emotionen, die wir mit Positivem verknüpfen, als erstrebenswert zu sehen – und negativ behaftete Emotionen vermeiden zu wollen. Deshalb sprechen wir in der Mimikresonanz von angenehmen und unangenehmen Emotionen. Hier entfällt diese Wertung und wir sprechen einer unangenehmen Emotion nicht ihre wichtige Funktion ab. Das ist für mich in der Tat ein enorm wichtiger Aspekt: Jede Emotion hat eine wichtige Funktion für unser (Über-)Leben. 

Aber wie schaffe ich es, im Zustand der Trauer zum Beispiel nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren?

Jede Emotion kann funktional oder dysfunktional erlebt werden. Das Wissen darüber reicht anfangs oft schon, um ein Verständnis für die eigene Emotionswelt und den Umgang damit zu entwickeln. Gleichzeitig hilft dieses Wissen auch dabei, unser Gegenüber besser zu verstehen. Letztlich geht es in der Mimikresonanz darum, sich selbst und dem Gegenüber wahrhaftiger zu begegnen und sie in ihrer Ganzheit zu sehen.

„Fünf Sekunden einatmen, fünf Sekunden 
ausatmen. Wenn man dies für ein paar 
Minuten macht, wenn man sich z. B. ärgert, merkt man, dass ­diese Technik sehr schnell ­erdet und beruhigt.“
Dirk Eilert

Ist eine Emotion dennoch sehr stark und wird dysfunktional (also blockierend) erlebt, sind Emotionsregulationsstrategien wichtig. Hier gibt es kleine Tricks, die uns helfen können, die inneren emotionalen Stromschnellen zu beruhigen. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel die Atmung. Das kann jeder selbst mal ausprobieren. Fünf Sekunden einatmen, fünf Sekunden ausatmen. Wenn man dies für ein paar Minuten macht, wenn man sich z. B. ärgert, merkt man, dass diese Technik, die ich als Resonanzatmung bezeichne, sehr schnell erdet und beruhigt.

Wie kann ich damit umgehen, wenn mir jemand mit Verachtung begegnet, wütend wird oder unsachliche Kritik äußert?

In der Mimikresonanz gehen wir noch einen Schritt weiter und arbeiten mit dem Motivkompass. Jede Emotion kann einem bestimmten Motivfeld zugeordnet werden. Die Felder definieren unterschiedliche Motivationen und Dynamiken und werden durch verschiedene Neurotransmitter gesteuert und beeinflusst. Das Spannende ist, dass jeweils zwei zugehörige Bereiche immer ein bestimmtes Motivfeld aktivieren. Spüren wir beispielsweise Ekel oder Verachtung, wird unser psychisches Immunsystem aktiviert. Freude und Liebe hingegen aktivieren das psychische Assimilationssystem. Wenn wir also verstehen, welche Motivation hinter einer Emotion steht, können wir dem Verhalten unseres Gegenübers mit Verständnis begegnen und angemessen damit umgehen. Verachtung ist zum Beispiel ein Zeichen dafür, dass bei unserem Gegenüber grundlegende Werte verletzt wurden.

Wie kann man es ohne Seminar oder ­Studium schaffen, ein Gefühl für die nonverbale Sprache zu bekommen?  

Die Kernidee von Mimikresonanz lässt sich in vier Erkenntnissen zusammenfassen: Die erste wichtige Erkenntnis ist, dass wir verstehen, dass unsere Mimik mit dem limbischen System verdrahtet ist und wir darüber so gut wie keine Kontrolle haben. Das heißt im ersten Schritt, dass ich meine Blickgewohnheiten verändere. Wenn ich eine wichtige Frage habe, schaue ich der Person ins Gesicht und achte darauf, ob sich dort etwas verändert. Im zweiten Schritt, wenn ich etwas beobachte, überlege ich, was das bedeuten oder worauf es hinweisen könnte, und im dritten Schritt, wenn ich eine Idee habe, was es bedeuten könnte, traue ich mich und spreche es wertschätzend an. Den größten Lerneffekt habe ich allerdings, wenn ich – viertens – aus dem Feedback, das ich dann möglicherweise bekomme, lerne. So erweitert sich meine Wahrnehmung Stück für Stück. 

Wenn man dich erlebt, fällt es schwer zu glauben, dass du in deinem Leben jemals etwas anderes gemacht hast. Was war für dich der entscheidende Moment, diesen Weg zu gehen?

Das einschneidende und vor allem entscheidende Erlebnis war mit einer Klientin im Jahr 2004. Damals arbeitete ich als Traumatherapeut. Während einer Sitzung fragte ich sie, wie es ihr geht. Sie antwortete mit „gut“. Aber ich nahm etwas in ihrem Gesicht wahr, was mir merkwürdig vorkam, also fragte ich noch mal nach. Ich sagte ihr, dass ich zwar die Worte aus ihrem Mund hören kann, diese aber nicht zu dem passen würden, was ich in ihrem Gesicht wahrnehme, nämlich tiefe Trauer. Sie schwieg kurz, bevor sie in Tränen ausbrach und mir sagte, dass sie gerade darüber nachgedacht habe, sich das Leben zu nehmen. Dieser Moment war einerseits schockierend für mich, weil ich mich fragte, was passiert wäre, wenn ich diesen kurzen Gesichtsausdruck übersehen hätte. Andererseits war dieser Moment sehr berührend, weil er einen Wendepunkt in der Therapie mit meiner Klientin darstellte. Sie sagte selbst, dass sie diesen Gedanken zum ersten Mal ausgesprochen hatte. Dieser Augenblick war der Startschuss der Mimikresonanz.  

Was ist dein größter Motivator?

Für mich ist ein erfüllter Tag ein Tag, an dem ich abends etwas verstanden habe, was ich morgens noch nicht wusste. Im Bereich der Emotionen und Körpersprache ist so vieles noch nicht erforscht. Jeden Tag werden neue Studien publiziert. Ich wünsche mir wirklich sehr, dass wir es schaffen, den aufsteigenden Trend psychischer Erkrankungen umzukehren – durch ein tieferes Verständnis unserer Emotionen. Aktuell bin ich zum Beispiel vertieft in die Bindungsforschung, denn, und auch das ist wahnsinnig wichtig, unsichere oder desorganisierte Bindungen hängen stark mit Psychopathologie zusammen. Deshalb ist es so wichtig, das Wissen über Emotionen in so viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einzubinden wie nur möglich.

Eine Welt, in der sich Menschen mit mehr Empathie begegnen, klingt erst mal wie eine Wunschvorstellung. Wie setzt du deine Arbeit ein, um dieser Vorstellung ein Stück näher zu kommen?

Mit unserer Deutschen Gesellschaft für Mimikresonanz – einem gemeinnützigen Verein – gehen wir ehrenamtlich an Schulen und setzen uns für das Unterrichtsfach „Emotionale Intelligenz“ ein. Denn was wir weder an Schulen noch im Alltag beigebracht bekommen, ist die Welt der stillen Sprache. 

Vielen Dank für das Gespräch.

Hinweis: Dieses Interview erschien erstmals in femMit-Magazin Ausgabe 7

Foto: Hans Scherhaufer

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