Der ­politische Wille fehlt

Selten wurde der Job einer Berufsgruppe im letzten Jahr medial und gesellschaftlich so in den Fokus gebracht wie der der Pflegenden in Deutschland. Applaus, Geschenke, Abwertung und Diskussionen wechselten sich ab. Mit den Warnstreiks im Herbst kamen die ersten lauten Stimmen, warum sich „die Pflege“ denn beschwere. Sie hätten doch einen ­sicheren Job in Zeiten von Staatshilfen, Kurzarbeit und dem drohenden Einbruch des Wirtschaftswachstums! Die verdienen doch genug! Oder? Ein Interview mit Medizinpädagogin, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin Laura Hinsche. 

Sie stören sich daran, dass so viel über die Pflege diskutiert wird. Warum? 

Der Vorhang zwischen Gesellschaft und Pflegenden wurde kurz gelüftet, wie der Blick im Zoo, neugierig, erstaunt und dann doch froh, dass man selbst nicht da hinter der Glasscheibe sitzt. Wenn wir über Pflege diskutieren, müssen wir aber erst einmal ein paar Fakten klären. Etwa zu der Frage, was überhaupt Pflege ist.

Wer ist die Pflege? 

Eine ziemlich heterogene Masse an Menschen, die in einem Beruf arbeiten, der den Gesundheitsberufen angehört. Laut Statistischem Bundesamt gibt es 5,7 Mio. Arbeitnehmer:innen, von denen natürlich nicht alle in „der Pflege“ arbeiten. Differenzierter kann man sagen, dass es in den unterschiedlichen Bereichen Menschen mit der Berufsbezeichnung Pflegefachfrau oder -mann gibt. Bis 2020 gab es noch andere Bezeichnungen: Gesundheits- und Krankenpfleger:in, Kinderkrankenpfleger:in oder -schwester, Pfleger:in oder Altenpfleger:in. Pflegefachfrauen und -männer arbeiten für ambulante Pflegedienste, stationäre oder teilstationäre Einrichtungen, Krankenhäuser, Vorsorge- und Rehaeinrichtungen oder stationäre Pflegeeinrichtungen. Natürlich können Pflegende auch im Gesundheitsamt, Apotheken oder Arztpraxen arbeiten, dann nimmt man sie in der Gehaltsdebatte aber besser raus. Wichtig zu erwähnen ist die Unterscheidung zwischen Pflegefachperson und Pflegehelfer, die sich in Dauer und Intensität der Ausbildung unterscheiden sowie unterschiedliche Kompetenzen haben.

Wie viele Menschen arbeiten im Pflegebereich? 

Die Gruppe an Pflegenden, die in oben genannten Bereichen arbeiten, umfasst 1,1 Mio. Arbeitnehmer:innen, die meisten davon im Krankenhausbetrieb. Ein Großteil der im Gesundheitswesen beschäftigten Arbeitnehmer:innen ist weiblich: 75,6 Prozent. Etwas mehr als 12 Prozent sind über 60 Jahre alt.

Und was verdienen die Menschen in der Pflege jetzt?

Innerhalb der Pflege gibt es – abhängig vom Ausbildungsberuf und Arbeitsplatz – starke Schwankungen beim Gehalt. Oft wird der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes zur Rate gezogen. Aber nur knapp die Hälfte aller Arbeitnehmer:innen über diesen Tarif eingestellt.

Das Grundgehalt einer Pflegefachkraft auf einer Normalstation liegt bei jährlich rund 35.000 Euro, monatlich sind das 2.880 Euro. Netto bleiben davon knapp über 1.900 Euro. Dazu kommen noch Zuschläge wie für Nacht- oder Wochenenddienste oder die Tätigkeit in Funktionsabteilungen. Die Pflegenden auf den Intensivstationen sind oft eine Gehaltsstufe höher gruppiert oder haben eine zweijährige Fachweiterbildung. Rechnerisch sind das netto oft ganze 50 Euro mehr monatlich. Nach 5 Jahren Ausbildung also ganze 600 Euro mehr im Jahr. Zum Vergleich: Ein Elektromeister kann bis zu 50.000 Euro im Jahr verdienen.

„Was professionelle Pflege wirklich kostet, scheint nicht abschließend geklärt zu sein.“

Woher kommt dieser Unterschied? 

Dazu gibt es unterschiedliche Thesen. Eine lautet: Pflege ist ein frauendominierter Sozialberuf – also per se schlechter bezahlt. Stichwort Gender-Pay-Gap. Drei viertel des Pflegepersonals sind weiblich. Warum es Gewicht hat, wie groß der Anteil der Frauen in einem Beruf ist, zeigen Studien. Forscher aus den USA haben herausgefunden, dass das Gehalt sogar sinkt, wenn Frauen vermehrt einen männerdominierten Beruf ergreifen. Der „Wert der Arbeit“ von Frauen ist niedriger als der von Männern – bei gleicher Arbeit. Ein anderer Grund könnte sein: Die Krankenhäuser müssen wirtschaftlich arbeiten und Personal ist teuer. Seit der Einführung des „Diagnostik-Realetat-Group“ – also des leistungsorientierten und pauschalisierten Vergütungssystems zur Abrechnung von Krankenhausleistungen im Jahre 2004 – hat sich die Aufenthaltsdauer eines Patienten zwar grundsätzlich auf 7,3 Tage verkürzt, die Fallzahlen der Krankenhäuser sind aber im Jahr 2016 auf 19,5 Mio. gestiegen. Im gleichen Zeitraum wurden zwar mehr Ärzt:innen eingestellt, im „nicht-ärztlichen Dienst“ sanken aber die Zahlen der Beschäftigten. Was das bedeutet, kann man immer wieder in den Nachrichten oder auch bei Twitter unter #Pflegenotstand lesen. Dazu kommt, dass Pflege bisher nur marginal bis gar nicht als Abrechnungsmöglichkeit vorkam und somit trotz vieler Aufgaben keine Argumentationsgrundlage in der Krankenhausfinanzierung hatte. Um Pflege auch finanziell sichtbar zu machen, wurde 2020 ein „Pflegebudget“ entwickelt, das die Prozesse „am Bett“ finanzieren sollte. Es gibt schon jetzt kritische Stimmen, da die Krankenhäuser ihr Pflegebudget mit den Kassen verhandeln müssen und diese „verwundert über die Mehrkosten“ sind. So berichten Krankenhauschefs, dass die Krankenkassen auf die hohen Forderungen misstrauisch reagieren. Was professionelle Pflege wirklich kostet, scheint nicht abschließend geklärt zu sein.

Was sind denn genau diese „nichtärztlichen Dienste“?

Wenn ich ins Krankenhaus komme, dann treffe ich überall auf Pflegende, die viele unterschiedliche Aufgaben haben – von Aufnahme bis Entlassung, von der Geburt bis zum Tod. Ein Beispiel sind die Prophylaxen, also Pflegetätigkeiten, die Komplikationen vermeiden sollen. Mobilisation, Lagerung, Ansprache, Motivation, Struktur – alles kleine Bausteine, die Pflegende wahrnehmen, anwenden und dokumentieren. Aber wenn ich keine Lungenentzündung bekomme, sehe ich das vielleicht gar nicht als „geleistete Arbeit“, ich bin ja nicht schwer erkrankt – ein Präventionsparadox. Leider scheint es hier so, dass eine Dienstleistung weniger wert ist als die Erschaffung eines Wirtschafts- oder Konsumgutes.

Sie beklagen die fehlende ­Akademisierung der Pflegenden. Was ist damit gemeint?

Obwohl die Pflege zu den Fachberufen gezählt wird und es 1978 zu einer beginnenden Akademisierung des Berufes in Europa kam, ist in Deutschland einzig der Pflegeberuf nicht gleichgestellt mit anderen klassischen Professionen – trotz Forderung der Berufsverbände. Die Ausbildung wurde 1978 nicht in eine hochschulische umgewandelt, sondern blieb weiter schulischer Natur. 2009 wurde im Rahmen der Koalitionsvereinbarung der CDU/CSU und FDP der Startschuss für ein neues Berufsgesetz gegeben, um „das Berufsbild der Altenpflege attraktiver zu gestalten“. Nach vielen Diskussionen, Anpassungen, Einschränkungen, Protest und Ideen ist 2020 das neue Gesetz über die Pflegeberufe – Pflegeberufegesetz (PflBG) – in Kraft getreten. Der Abschluss zur/zum Pflegefachfrau/-mann ist für sechs Jahre in einer Erprobungsphase. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe, fordert „keine Kompromisse in den qualitativen Anforderungen an die Ausbildung“ und hat den schon länger geforderten regelhaften Hochschulzugang für die Auszubilden der Pflege im Blick.

„Mehr Lohn würde auch weniger Altersarmut bedeuten, da viele Arbeitnehmer:innen aufgrund familiärer Strukturen, Pflege von Angehörigen oder aufgrund der hohen Belastung nur in Teilzeit arbeiten können.“

Bräuchten wir eine Pflegekammer?

Ärztekammer, Handwerkskammer, Pflegekammer, so könnte es in Deutschland auch aussehen. Leider gibt es keine Pflegekammer. Dafür gibt es viele Gründe, auch berechtigte Kritik an den bisherigen Versuchen, Pflegekammern auf Landesebene zu gründen. Leider arbeiten Politik, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften nicht nachhaltig mit an der Gründung solcher Kammern und auch die Pflegenden stehen den Kammern oft kritisch gegenüber – Stichwort „Zwangsbeiträge“. Es bedarf viel Zeit, bis sich Kammern bezahlt gemacht haben, leider reicht bei den meisten Pflegenden die Geduld, vermutlich nach so vielen gebrochenen Versprechen auf Verbesserung, nicht.

Was könnten denn Lösungen für die Misere der Pflege in Deutschland sein? 

Die erste und meist einfachste Lösung, einen Beruf attraktiver zu gestalten, ist der Lohn. Wer nicht von seinem Job leben kann und die Wahl hat, wird sich gegen einen Beruf entscheiden, der die laufenden Kosten kaum deckt. Setzt man den „Comparable- Worth-Index“ an, könnten Pflegende auf einer Lohnstufe mit Ingenieuren und Lehrkräften im Sekundarbereich stehen. Die Forderungen aus der Pflege und den Berufsverbänden reichen von 4.000 Euro Einstiegsgehalt bis zu 6.000 Euro brutto mit Fachweiterbildung. Mehr Lohn würde auch weniger Altersarmut bedeuten, da viele Arbeitnehmer:innen aufgrund familiärer Strukturen, Pflege von Angehörigen oder aufgrund der hohen Belastung nur in Teilzeit arbeiten können.

„Es fehlt nicht an Ideen, den Pflegeberuf attraktiver und besser zu gestalten. Leider scheint der politische Wille zu einschneidenden, aber wichtigen Umbauten im Gesundheitssystem zu fehlen.“

Wenn so viel Unzufriedenheit herrscht, warum streiken die Pflegenden dann nicht einfach? 

Die Frage wird auch unter Pflegenden oft heiß diskutiert. „Aber die Patienten“, sagt die Gesellschaft, „wer versorgt die denn dann?“ Was wir bei Streiks bräuchten, wäre der Rückhalt der Gesellschaft. Auch sind zu wenig Pflegekräfte in Gewerkschaften organisiert. Der Bochumer Bund als Pflegegewerkschaft ist seit 2020 dabei, sich breit aufzustellen, um die Pflegenden zu vertreten. Es würde auch schon helfen, wenn alle „Dienst nach Vorschrift“ machen würden. Kein Einspringen, keine Überstunden, keine zusätzlichen Aufgaben übernehmen, keine Aufgabe von Urlaub, nicht krank auf die Arbeit. Vermutlich würden da schon die meisten Dienstpläne kollabieren.

Was also muss passieren? 

Fakt ist, Pflegende sind für die Arbeit und Verantwortung, die sie tragen, zu schlecht bezahlt. Es gibt Werkzeuge, um nach Kompetenzen und Arbeitsbereichen eine gerechte Bezahlung zu generieren. Es fehlt nicht an Ideen, den Pflegeberuf attraktiver und besser zu gestalten. Leider scheint der politische Wille zu einschneidenden, aber wichtigen Umbauten im Gesundheitssystem zu fehlen. Pflege wird weiter deprofessionalisiert und, wenn möglich, eingespart. Wir sollten uns nur alle im Klaren sein, dass wir jederzeit und in jedem Lebensabschnitt plötzlich oder schleichend von Pflegenden „abhängig“ sein können. Und dann können wir nur hoffen, dass noch jemand da ist. —

Hinweis: Das Interview erschien erstmals im femMit Magazin Ausgabe 3.

Bild: adobestock/auremar

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