Für alle

Musik, die aufweckt, verbindet und sich nicht verbieten lässt.

von Shabnam Shabany, CEO ShaShaTainment, Künstlermanagerin

Nachts irgendwo in Deutschland. Ich lege mich ins Bett und schaue mir wie jeden Abend noch ein paar Videos an. Mein perfekter Weg, vom Alltag abzuschalten. Eben lache ich noch, aber auf einmal überkommt mich gleichzeitig Traurigkeit und Hoffnung.

Ich sehe eine Frau, die so gefühlvoll, fast flehend singt, dass ich sofort ergriffen bin. Auf einmal verstehe ich die Wörter. Sie singt auf Persisch. Die Sprache meiner Eltern. Meine ist es nicht, aber ich verstehe die Wörter. Auf einmal verstehe ich alles.

Foto: Shabnam Shabany

Bis zu dieser Nacht hatte ich es geschafft, die Geschehnisse im Iran von mir fernzuhalten. Zu schmerzhaft ist die Erinnerung an dieses ferne Land, zu schmerzhaft das Wissen um die Menschen und das Land.

Mit 11 Jahren war ich für sechs Monate im Iran. Das war im Jahr 1987, als der erste Golfkrieg, der Krieg zwischen Iran und Irak, tobte. Der Krieg, der in den letzten Jahren vergessen wird, weil die Kriege anscheinend nur zählen, wenn es eine westliche Beteiligung gibt.

Ich bin 1976 in Deutschland geboren und aufgewachsen, Iran war für mich immer ein fernes Land, das mit meinem Leben nicht viel zu tun hatte. Meine Eltern haben jeden Tag Nachrichten geschaut und sich Sorgen um ihre Familien gemacht. Aber das war alles weit weg. Nur ein paar Fotoalben erinnerten an das Leben, das meine Eltern vor der Islamischen Revolution im Iran geführt haben. Bilder meiner Mutter mit schönen Frisuren und Minikleidern auf den Straßen Isfahans. Bilder meines Vaters, der als Basketballspieler umherreiste und meine Mutter mit ihren schicken, dunklen Sonnenbrillen wie aus Magazinen der 1960er-Jahre. Mein Vater kam in den 1970er-Jahren zum Studium nach Deutschland. Schnell schloss er sich an der Uni einer politischen Gruppierung an, die gegen den damaligen König, den „Schah von Persien“ gekämpft hat. Sie waren gegen das Unrechtsregime, das von ihm ausging, und wollten um jeden Preis das Ende herbeiführen. Für Freiheit. Für Demokratie. Doch dann kam alles anders. Es wurde mit westlicher Hilfe eine Revolution herbeigeführt. Leider keine demokratische, sondern die „Islamische Revolution“. Morde standen an der Tagesordnung und die Flucht aus dem Iran war Dauerthema. Intellektuelle, Sänger:innen, Regimetreue, aber auch Regimegegner:innen – alle waren Feinde und konnten jeden Moment eingesperrt und hingerichtet werden. Der Kampf der Studierendenverbindung ging noch eine Weile weiter. Aber auch sie gab irgendwann auf. Mein Vater sagte mal ernüchtert zu mir: „Wir wollten eine Revolution, wir wollten Demokratie, oder höchstens eine Regierungsform wie in Großbritannien. Ein König, der nur repräsentiert und ein Parlament, das die Entscheidungen trifft.“ Kurz nach der Revolution brach 1980 der Krieg aus. Auf einmal ging es nicht mehr um Freiheit und Demokratie, es ging nur noch um das Überleben.

Die Zeit war geprägt von Wut und Tränen.

Meine Eltern waren immer in Aufruhr. Meine Mutter wechselte zwischen lauten Rufen, wenn Bilder von verschleierten Menschenmassen gezeigt wurden („Das sind wir nicht!“), hin zu Tränen, wenn Kriegsopfer beider Seiten gezeigt wurden. Zu meiner Beruhigung aber passierte das alles in diesem fernen Land, weit weg.

Plötzlich war ich mittendrin. Ich hatte gerade die fünfte Klasse beendet, da erfuhr ich, dass meine Mutter und ich in den Iran gehen würden. Mein Vater käme nach. Warum weiß ich bis heute nicht. Aber ich erinnere mich an die Traurigkeit, alles verlassen zu müssen und keine Musik mehr hören zu können. Im Jahr zuvor war ich in den Sommerferien mit meiner Mutter im Iran gewesen und wusste, dass populäre Musik nicht erlaubt ist, gleichgültig ob persische oder westliche. Ich gab meinem Vater Bilder und Aufkleber von meinen Lieblingssänger:innen, die er mir per Post in den Iran schicken sollte. Mein Schmerz war, dass ich nicht mehr Madonna, Michael Jackson und George Michael hören konnte. Ich hatte keine Vorstellung, was mir bevorstehen könnte.

Ich lernte die Regeln, aber ich dachte immer, dass es so nicht richtig sein kann.

Shabnam Shabany

Angekommen im Iran und rausgerissen aus meiner gewohnten Umgebung änderte sich mein Leben schlagartig. Plötzlich musste ich immer einen Kurzmantel und Kopftuch tragen, wenn ich das Haus verlassen wollte. Ich konnte nicht mehr allein aus dem Haus gehen, weil ich die Umgebung nicht kannte. Meine Sprachkenntnisse reichten für den Umgang zu Hause, aber nicht für ein reguläres Leben außerhalb. Freund:innen hatte ich auch nicht mehr, nur noch Verwandte. Manchmal durfte ich zu einer meiner Tanten. Da war ich besonders gerne. Sie war lockerer im Umgang und trug das Herz auf der Seele. Bei ihr hing in einem Raum ein sehr großes Gemälde. Ein Ölgemälde mit einem Segelschiff auf dem Meer. Ich schaute es mir gerne an. Doch dann fiel mir auf, dass unten links ein Schloss angebracht war. Als ich nachfragte, warum denn an dem Gemälde ein Schloss ist, kam mein Cousin und öffnete das Schloss. Hinter dem Gemälde waren reihum Kassetten. Das Gemälde war das Versteck für die Musikkassetten der Familie. So beeindruckend das war, so verstörend war es auch. Das war jetzt meine Welt. Ich ging nicht mehr mit meinem Walkman oder Discman aus dem Haus, sondern musste zu meiner Tante, um mit Kassetten aus einem Versteck Musik zu hören. Zu meinem Leidwesen gab es hier nur Kassetten mit persischer Musik. Einmal habe ich Musik von Michael Jackson gehört, aber das war bei einem anderen Cousin. Ich lernte die Regeln, aber ich dachte immer, dass es so nicht richtig sein kann.

Wie richtig kann es sein, wie gerecht kann eine Regierung sein, die ihren eigenen Bürger:innen Musik verbietet? Die eigene Musik. Nicht eine der Propaganda nach „westliche“ Musik, die einen vermeintlich schlechten Einfluss auf die Bürger:innen hätte und zu einer Verwestlichung führen würde. Das stand für das Regime unbestritten fest. Aber eben auch persische Musik. Diese konnte doch per se nicht verwestlichen?! Unnötig zu erwähnen, dass alle iranischen Popstars vor und nach der Revolution im Ausland, vorwiegend in den USA, leben. Seitdem hat der Iran keine Popstars mehr.


Nach sechs Monaten wurde ich erlöst und konnte das Land verlassen.

Die Monate in Unfreiheit, im Krieg haben ihre Spuren hinterlassen. Nie werde ich vergessen, wie ich aus der Schule abgeführt wurde, weil ich etwas gegen die islamische Regierung und für die Freiheit gesagt hatte. Zurück in Deutschland wurde ich still und konsumierte Musik, als gäbe es kein Morgen. 35 Jahre später liege ich also im Bett und höre das Lied „Baraye“ („Für“) von dem iranischen Sänger Shervin. Das Lied hatte innerhalb von zwei Tagen 40 Millionen Aufrufe auf Instagram, bis es gelöscht wurde. Der Sänger wurde nicht mal 24 Stunden nach Erscheinen abgeführt und in Haft genommen. Sie versuchen es immer noch. Die Musik zu verbieten. Denn sie wissen, wie viel Freiheit und Sehnsucht in Musik liegt. Doch die Zeiten haben sich geändert. Das Lied geht um die Welt und ich liege nachts im Bett und sehe, wie es in Buenos Aires auf einem Coldplay Konzert von einer iranisch-französischen Schauspielerin gesungen wird. Das Lied wird zum Protestlied einer Bewegung, deren Rufe und Schreie immer lauter werden. Eine Bewegung, die sich einfach nach Freiheit sehnt.

Der iranisch-deutsche Dichter Said schrieb einmal: „Dann schreie ich, bis Stille ist.“ Hoffen wir, dass die richtige Seite still wird. Für Frauen, für Leben, für Freiheit – für alle. —

Baraye

„Für“ oder „wegen“ heißt es übersetzt. Aus vielen Tweets, die erklären, warum die Menschen auf die Straße gehen, formte der iranische Musiker Shervin Hajipour den Song „Baraye“. Innerhalb kürzester Zeit wurde dieser zur Hymne der Protestwelle. Über 40 Millionen Mal wurde der Song bei Instagram angeklickt. „All das, was die Islamische Republik dem Volk in den 43 Jahren ihres Bestehens angetan hat, kommt in dem Lied vor,“ sagt die Journalistin Natalie Amiri im Deutschlandfunk. 

Aber das Regime reagiert auf den Song. Der 25-Jährige wird verhaftet, das Lied bei Instagram gelöscht. Später, vermutlich unter Folter, entschuldigt er sich auf Instagram und sagt, er habe keine politische Botschaft setzen wollen. Inzwischen wurde Shervin Hajipour wieder freigelassen. Das Lied wird weiterhin geteilt, gespielt und erweitert – selbst Verhaftung und Zensur konnten „baraye“ nichts anhaben.

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