„Ich sagte immer: Ich würde nie mit auf ein Schiff gehen!“
Hermine Poschmann ist als Search and Rescue Coordinator Vorstandsmitglied bei der Dresdner Hilfsorganisation MISSION LIFELINE. Sie ist verantwortlich dafür, Schiffe für zivile Seenotrettungseinsätze an den Start zu bringen, hat den Überblick über die Zusammenstellung der Crews und achtet darauf, dass die Besatzungsmitglieder die notwendigen Qualifikationen mitbringen. Sie koordiniert die einwöchigen Briefings vor den Einsätzen und kümmert sich um die Kommunikation. Damit rettet die gebürtige Dresdnerin Menschen vor dem Ertrinken, die zusammengepfercht in überfüllten Booten im Mittelmeer oder im Atlantik treiben.
Und sie hilft an Land. Zwei Tage nach Kriegsbeginn war sie mit ihrem Team an der Grenze zur Ukraine. Dort hat sie für Menschen, die sich vor den russischen Angriffen in Sicherheit bringen mussten, sichere Transfers in sichere Unterkünfte organisiert. Zuvor hat sie sich starkgemacht für Evakuierungen aus Afghanistan und für bessere Lebensbedingungen für Geflüchtete auf der griechischen Insel Lesbos. Wie viel Mut braucht die 35-Jährige für ihre tägliche Arbeit, wie geht sie mit Anfeindungen um, und warum sind für die Seenotrettung Frauen mit Ausbildung in MINT-Bereichen besonders wertvoll? Ein Einblick.
Text: Katalin Valeš
Zwei Tage nach Kriegsbeginn in der Ukraine hat Hermine Poschmann den Transfer von Geflüchteten am slowakisch-ukrainischen Grenzübergang Vyšné Nemecké nach Deutschland und Österreich organisiert. Mit der durch Spenden finanzierte Hilfsorganisation Mission Lifeline aus Dresden engagiert sie sich hauptsächlich in der zivilen Seenotrettung. Als der Ukraine-Krieg losging, war das Schiff in der Werft. Einsätze konnten zu dem Zeitpunkt also nicht gefahren werden. So war schnell klar: „Wir müssen da hin!“
Die NGO war als eine der ersten Organisationen vor Ort. Spenden wurden gesammelt und Fahrzeuge für die Transporte von der Grenze in sichere Unterkünfte organisiert. In Windeseile wurde eine Datenbank aufgebaut, über die Privatleute Wohnraum für Geflüchtete anbieten können. Tausende E-Mails, Anrufe und Direktnachrichten über Soziale Netzwerke erreichten Mission Lifeline unmittelbar nach Kriegsbeginn. In den ersten drei Wochen hat Hermine Poschmann mit ihrer Organisation nach eigenen Angaben fast 5.000 Menschen geholfen. Ab Anfang April verlagerten sie ihr Engagement an die polnisch-ukrainische Grenze. „Wir kämpfen dafür, dass Menschen auf der Flucht kein Leid zugefügt wird“, erklärt Hermine Poschmann ihre Motivation. Das gilt auch für die Krisen, die in Deutschland weit weniger Hilfsbereitschaft hervorrufen.
Zwei Tage nachdem das Flüchtlingscamp Moria im Jahr 2020 auf der griechischen Insel Lesbos in Flammen aufging, war die gebürtige Dresdnerin vor Ort. Und während die Corona-Pandemie Europa fest im Griff hatte, baute sie auf den Kanaren ein Hilfsprojekt auf. Laut Hilfsorganisationen hatte sich die Zahl der Geflüchteten, die auf den kanarischen Inseln ankamen, binnen eines Jahres versiebenfacht. Die neu geöffnete „Atlantikroute“ war das Resultat einer verschärften Überwachung der EU-Außengrenzen auf der westlichen Mittelmeerroute und spiegelte die Verschiebung von Migrationsrouten wider. Hunderte Menschen verloren ihr Leben – die Überfahrt gilt als eine der gefährlichsten der Welt: Einer von 16 Menschen stirbt bei dem Versuch, in einem kleinen Boot von Afrika aus auf die kanarischen Inseln und somit auf Territorium der Europäischen Union zu gelangen. Hermine Poschmann gehen solche Nachrichten unter die Haut. Sie will handeln, statt zum nächsten Tagesordnungspunkt überzugehen. Mission Lifeline kaufte ein kleines Schiff, um die spanischen Seenotrettungsorganisationen bei der Suche nach Booten in dem riesigen Seegebiet zu unterstützen. Ob das, was sie leistet, mutig ist, hat sich Hermine Poschmann nie gefragt. Was sie antreibt, ist ihr Verständnis von Gerechtigkeit: „Im Studium habe ich gelernt, dass wir alle für diese Fluchtbewegungen mitverantwortlich sind. Unsere Konsumwege sind verworren. Es gibt Menschen, die unter unserem Konsum im globalen Norden leiden. Diese Menschen sollten das Recht haben, an unserem Reichtum teilzuhaben. Es ist für mich eine logische Folge, dass die Leute aus ihrer Umgebung fliehen müssen, wenn wir deren Lebensgrundlage zerstören. Dass sie überleben, einen sicheren Platz bekommen und sich ihre Zukunft, genauso wie wir das auch können, so gestalten können, wie sie das wollen, sollte doch möglich sein!“
Herausforderungen annehmen
Hermine Poschmann hatte im Mai vor fünf Jahren als Bürokraft bei Mission Lifeline angeheuert. Was ursprünglich als Studi-Job neben ihrem Masterstudium Transformationsdesign an der Kunsthochschule Braunschweig begann, entwickelte sich schnell zur Herzensangelegenheit und somit zum Vollzeitjob. Sammelte sie anfangs noch Spendendosen ein, stellte Quittungen aus und erledigte klassische Büroarbeiten, kamen bald mehr Aufgaben hinzu. Eines Tages wurde sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, das Crewing zu betreuen. Ihr erster Gedanke: „Was ist das?“
Letztlich ging es darum, die Besatzung des Schiffes für die Rettungseinsätze zusammenzustellen, und auszuwählen, wer für welche Aufgabe an Bord geht. Lange musste sie nicht überlegen. Hermine Poschmann stellte sich der Herausforderung und ist daran gewachsen: „Beim Zusammenstellen einer Crew ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Menschen zusammenpassen und auf engstem Raum gut miteinander arbeiten können.“
Durch Ausbildung im MINT-Bereich Menschen retten
Bei der zivilen Seenotrettung ist neben Enthusiasmus und Sprachkenntnissen eine solide Ausbildung im MINT-Bereich wichtig. Wenn Hermine Poschmann die Schiffsbesatzung für die Rettungseinsätze zusammenstellt, sucht sie nach Maschinist:innen, Kapitän:innen, Itler:innen und Menschen, die für die Einsatz-Schnellboote verantwortlich sind oder sich um die Schiffselektrik kümmern. Im Werft-Team werden zudem Fachleute für Schweiß-, Metallbau- und Tischlerarbeiten gebraucht. Poschmann bedauert, dass sie die Crews nicht geschlechterparitätisch besetzen kann. Für die technischen Posten würden sich kaum Frauen finden. „Aus einer feministischen Perspektive betrachtet, sollte es keine Rolle spielen, welche Geschlechter wo vertreten sind. Ich mache da keinen Unterschied, ob eine Frau, ein Mann oder eine diverse Person vor mir steht. Doch es ist Realität, dass vor allem in der Seefahrt der Männeranteil überwiegt. Das schreckt einige Frauen ab. Eine Offizierin, die wir mal mit dabei hatten, erzählte mir, dass sie wahnsinnig gern Nautik studieren würde. Sie fürchtete aber, in diesem männerlastigen Bereich unterschätzt zu werden.“
Mut wird belohnt
Bei aller Leidenschaft für die Seenotrettung, anfangs war Hermine Poschmann felsenfest davon überzeugt, eine Sache bestimmt nicht zu tun. „Ich habe immer gesagt: ‚Ich würde nie mit auf ein Schiff gehen, ich würde nie da mitfahren.‘ Das ist so eine krasse Arbeit und ich fand die Menschen, die das machen, super stark und super beeindruckend. Für mich selbst konnte ich mir das lange nicht vorstellen.“
Mit der Zeit hat sich ihr Bild verändert: „Dann kam der Moment, in dem ich dachte, dass ich meine Arbeit nicht machen kann, ohne selbst dabei gewesen zu sein.“ Viele der Ehrenamtlichen, die sich für die Rettungseinsätze melden, haben selbst noch nie auf See gearbeitet. Ihnen wollte Hermine Poschmann aus eigener Erfahrung vermitteln, wie so eine Mission abläuft. Sie packte ihre Sachen und machte sich auf den Weg: „Für mich war das super aufregend.“ Auf dem Schiff hat sie als Medienkoordinatorin den Einsatz dokumentiert, Fotos gemacht und Pressemenschen betreut, die an Bord gekommen sind. „Auf das Schiff zu gehen, war definitiv eine Überwindung. Aber auf See habe ich festgestellt, dass ich mich vorher im Leben noch nie so richtig am richtigen Platz zur richtigen Zeit gefühlt habe, wie dort.“
Erfordert die Begegnung mit Menschen, die fast alles verloren und ihre Heimat verlassen haben, die auf gefährlichen Fluchtrouten ihr Leben riskieren, persönlichen Mut? Lassen einen die Bilder wieder los? In diesen Kategorien denkt Hermine Poschmann nicht. Sie fragt sich eher, was zu tun ist und wie sie helfen kann. Für die Menschen, denen sie begegnet, empfindet sie größten Respekt. „Zu einigen habe ich noch Kontakt, und hier und da gibt es einen Geburtstagsgruß oder einen Austausch. Doch natürlich geht das nicht mit allen.“ Viele, denen sie helfen kann, sind dankbar. Ihr selbst ist das unangenehm: „Es ist notwendig, dass jemand hilft. Diese Menschen sind in ihrer Situation, weil hier in dieser Welt was falsch läuft.“
Wenn sie vor Ort im Einsatz ist, wie zuletzt an der Grenze zwischen der Slowakei und der Ukraine, treten Emotionen in den Hintergrund. Sie konzentriert sich auf ihre Aufgabe. „Die lag beim Ukraine-Einsatz vor allem im logistischen Bereich. Wir haben Busse organisiert und private PKW, um die Ankommenden in sichere Unterkünfte zu bringen.“
„Absaufen! Absaufen! Absaufen!“
Das Engagement von Menschen wie Hermine Poschmann und ihrem Team um Mission Lifeline-Gründer Axel Steier finden nicht alle gut. „Absaufen! Absaufen! Absaufen!“, skandierte im Jahr 2018 eine aufgebrachte Menge auf dem Dresdener Altmarkt bei einer Montagsdemo von Pegida. Ein Gründungsmitglied der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ hatte sich gerade auf der Bühne abfällig über Mission Lifeline geäußert, und die Menge antwortete mit verachtendem Sprechgesang. Hermine Poschmann erfuhr davon erst im Nachhinein. Denn zu der Zeit war sie mit einem Schiff auf dem Wasser und wartete gemeinsam mit der Crew und 234 geretteten Geflüchteten darauf, in einen sicheren Hafen in Italien einfahren zu dürfen. Die italienische Regierung hatte zunächst versucht, das zu verhindern. International sorgte der Fall für Schlagzeilen. Später wurde gegen den damaligen Lifeline-Kapitän Claus-Peter Reisch Anklage erhoben, von der er schlussendlich nach langwierigen Verfahren freigesprochen wurde. Politiker wie Horst Seehofer oder Christian Linder warfen privaten Seenotrettungsmissionen „Beihilfe zum Schleppertum“ vor, und auch andere Menschen aus der Spitzenpolitik äußerten sich kritisch. Schlimmer war es für Hermine Poschmann allerdings zu hören, dass Teile ihrer Familie regelmäßig zu PEGIDA-Demos gingen: „Das war wie ein Schlag ins Gesicht.“
Support von Böhmermann, den Toten Hosen und Udo Lindenberg
In den „sozialen“ Netzwerken wird die private Hilfsorganisation regelmäßig beschimpft – weil sie Menschen nach Europa und Deutschland bringen, die hier – nach Ansicht einiger – nichts zu suchen hätten. Anfangs habe Hermine Poschmann noch versucht, zu kontern, ins Gespräch miteinander zu kommen. Doch das stellte sich schnell als Zeitverschwendung raus, wie sie sagt. Konstruktive Kritik findet sie gut und wichtig, weil sie selbst und die Organisation daran wachsen können. Plumpe Beschimpfungen lassen sie inzwischen kalt: „Diese Anfeindungen sind mir relativ egal. Da stehe ich komplett drüber“, sagt Hermine Poschmann mit ruhiger Stimme. „Der Vorwurf der Schlepperei entspricht nicht der Tatsache. Wir sind eine Seenotrettungsorganisation, weil es im Mittelmeer keine staatliche Seenotrettung gibt, und weil das Gebiet entlang der Atlantikroute einfach zu groß ist. Sichere Fluchtwege sollten ein Menschenrecht sein. Das sollte nicht durch die europäische Politik verwehrt werden. Diesen Grundsatz haben wir als Team verinnerlicht und danach handeln wir. Was im zentralen Mittelmeer passiert, ist lebensgefährlich. Die Menschen werden aber gezwungen, diese Wege zu nehmen. Das macht mich stinksauer. Deshalb möchte ich helfen und lasse mich nicht einschüchtern.“
Wenn Hermine Poschmann stinksauer ist, spricht sie trotzdem noch mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme. Ihr Blick ist klar und bestimmt. Weniger gelassen sieht sie es, wenn leeren Worthülsen Taten folgen. „Es kam vor, dass eine Gruppe von 10, 15 Leuten aus der Identitären Bewegung an unserem Briefkasten stand und Leute bedrohte.“ Was sie in Situationen wie diesen ermutigt weiterzumachen: Der breite, bundesweite Support aus der Bevölkerung und die Unterstützung von Prominenten, die sich solidarisieren und öffentlich zu Spenden aufrufen – wie beispielsweise die Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf, die Punkrock-Band „Die Ärzte“, Benjamin Hartmann, der Gründer des Modelabels HUMAN BLOOD, Jan „Monchi“ Gorkow, Sänger und Frontmann der Punkband „Feine Sahne Fischfilet“, Udo Lindenberg und „Die Toten Hosen“.
Machen statt zweifeln
Ob sie manchmal an ihrer Arbeit zweifelt? „Wenn ich zu viel zweifeln würde, könnten wir die Arbeit nicht machen. Klar, es gibt mal Zweifel, wenn es zum Beispiel um die Umsetzung von Dingen geht. Aber es ist besser, die Dinge einfach zu machen und nicht erst komplett zu planen und zu zerreden“, ist Hermine Poschmann überzeugt. Sie würde sich wünschen, dass sie noch viel, viel mehr machen könnten, weil es überall in der Welt Krisenherde gibt. Ihr Ziel: als humanitäre Hilfsorganisation größer zu werden. „Damit wir mehr dafür tun können, dass Menschen auf der Flucht nicht so leiden müssen.“
MUT: Hilfsbereitschaft nicht an Pass und Hautfarbe hängen
Hermine Poschmann wünscht sich von denen, die Veränderungen fürchten, mehr Mut: „Wenn ich die Solidaritätswelle mit der Ukraine anschaue, würde ich mir das insgesamt wünschen, wenn es um das Thema Flucht geht. Wir mussten leider feststellen, dass die Empathie deutlich geringer ist, wenn Menschen auf der Flucht sind, die einen ‚falschen‘ Pass oder eine ‚falsche‘ Hautfarbe haben. Ich wünsche mir, dass da ein Umdenken stattfindet und, dass aufgrund dieser Dinge keine Unterschiede gemacht werden. Innerhalb kurzer Zeit waren Politiker:innen bereit zu unterstützen, die bürokratischen Hürden, die normalerweise ein Asylverfahren mit sich bringt, sind mit einem Mal weg gewesen. Tausende Menschen haben sich auf den Weg gemacht, um zu unterstützen. Tausende haben sich bei uns gemeldet und angeboten, mit ihrem privaten PKW loszufahren. Sie sagten: ‚Wir können kommen. Wir können mithelfen, wir stellen unseren eigenen privaten Wohnraum zur Verfügung.‘“
Hermine Poschmann findet die neue Hilfsbereitschaft der Bevölkerung richtig gut. „Trotzdem hat es ein Geschmäckle, wenn wir über das Thema Mittelmeer sprechen oder Syrien oder Afghanistan. Während da nix ging, geht jetzt innerhalb von einer Woche alles.“ Gleichzeitig sei es ein gutes Beispiel dafür, dass Dinge funktionieren, wenn der Wille da ist. „Wir haben es jetzt beim Ukraine-Krieg gesehen: Da ist ganz viel Potential in der Zivilgesellschaft, um zu helfen und zu unterstützen. Und sie erinnert: Der Ukraine-Konflikt überschattet gerade ganz viel, trotzdem sterben immer noch Menschen, die versuchen, von Afrika nach Europa zu kommen. Und solche Themen fallen leicht hinten runter. Ich wünsche mir in unserer Gesellschaft generell mehr Solidarität und mehr Offenheit für Menschen, die auf der Flucht sind. Viele machen das nicht freiwillig und wollen später in ihre Heimatländer zurück. Aber sie brauchen einen temporären Schutz. Ich finde, der sollte allen, die fliehen müssen, gewährt werden.“ Hermine Poschmann fände es gut, wenn künftig mehr Menschen aktiv werden würden. „Ich finde, jeder und jede von uns hat ein bisschen Zeit, sich irgendwo fest zu engagieren. Wir haben viel Luxus, viel Frieden, viele Freiheiten. Unser Privileg, hier in diesem superreichen Land leben zu dürfen, sollten wir nutzen, um Menschen, denen es nicht so gut geht, zu helfen.“ —
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals in femMit-Ausgabe 4.
Titelbild: Barbara Held