Neuseelands besonderer Weg
von Anke Richter
Neuseelands Weg, COVID-19 zu begegnen, hat international für Anerkennung gesorgt. Die rigiden Maßnahmen hätten ohne Jacinda Arderns empathische Kommunikation jedoch nicht gegriffen. Die Premierministerin steht nun als erfolgreichste Regierungschefin der Welt im Kampf gegen die Pandemie da.
Als Ende Mai ein starkes Erdbeben die Umgebung von Wellington erschütterte und sich Tausende von Menschen unter Tische und Türrahmen flüchteten, blieb eine Person sichtlich cool. Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern saß in einem Fernsehinterview, lächelte souverän und gab zum Abschied das „Daumen hoch“-Zeichen – symbolisch für ihr Krisenmanagement der letzten Monate.
Der Abend vor dem Beginn des Lockdowns im März war gespenstig ruhig: Die Straßen wie ausgestorben, alle Bars geschlossen und knapp fünf Millionen Menschen ab sofort auf unbestimmte Zeit daheim. In diese Stille hinein schrillte am 25. März von sämtlichen Handys ein Alarmsignal. Es kam mit einer offiziellen SMS der Regierung über die Einschränkungen der nächsten Wochen. „Verhalten Sie sich so, als ob Sie COVID-19 hätten. Das wird Leben retten“, hieß es darin, und zum Schluss die Maori-Worte „kia kaha“ – seid stark.
Wenig später konnte man die Verantwortliche für die SMS-Sirene live beim Facebook-Chat erleben: Jacinda Ardern saß im Sweatshirt zu Hause, hatte Tochter Neve ins Bett gebracht und erzählte, dass es ihr genauso gehe wie allen in diesen Stunden – der Ausnahmezustand sei verunsichernd. Nicht autoritär von oben herab, sondern authentisch und warmherzig beruhigte die junge Mutter im Plauderton die gesamte Nation. An jenem Abend zeigte sich, wie die Führungsstrategie der momentan erfolgreichsten Regierungschefin der Welt im Kampf gegen COVID-19 funktioniert: Strenge Maßnahmen flankiert von sanften Worten, dazu Social-Media-Kompetenz.
Arderns mutigster Schritt war die plötzliche Schließung der Grenzen eine Woche zuvor. Vier Millionen Reisende – fast so viele, wie das Land an Bevölkerung hat – besuchen jedes Jahr Neuseeland. Nicht Lammfleisch und Wolle, sondern der Tourismus ist heutzutage die Haupteinnahmequelle im Pazifik-Staat. Darauf zu verzichten, um Leben zu schützen, war wirtschaftlich hochriskant. Zwei Tage darauf machte Ardern eine von Kameras übertragene Ansage im Oval-Office-Stil, um die vier Härtestufen ihrer Corona-Maßnahmen darzulegen. Im Gegensatz zu vielen anderen Staatsoberhäuptern hatte sie einen ausformulierten Plan. Den umzusetzen, erforderte nicht nur Kompetenz, sondern Transparenz und Nähe.
Fokus auf dem Wir-Gefühl
Nur 48 Stunden blieben der Bevölkerung Neuseelands in Stufe drei, bevor auch im Land selbst alle Tore geschlossen wurden. „Be kind“ (seid nett) war das Mantra und „go hard and go early“ die Taktik, die Ardern fortan mit ihrem Gesundheitsteam in täglichen Pressekonferenzen ausbreitete. Die Meetings wurden zum mittäglichen Fixpunkt der Nation. Neben den medizinisch-administrativen Entscheidungen zu Tests, Sicherheitsabstand und Quarantäne lag der Fokus auf dem Wir-Gefühl – wissend, dass der Pandemie-Plan nur funktioniert, wenn das „Team von fünf Millionen“ solidarisch mitzieht.
Das tat es: 87 Prozent unterstützten nach vier Wochen rigidem Lockdown eine Verlängerung. Die Maßnahmen der neuseeländischen Regierung hatten die höchste Akzeptanz in allen G7-Staaten. In einer internationalen Umfrage darüber, welches Land in der Krise intern am besten kommuniziert hat, lag Neuseeland mit 20 Prozent an der Spitze. Deutschland folgte mit 16,5 Prozent und die USA kamen ganz zum Schluss. Auch in der Pandemie-Bekämpfung liegt der kleine Staat weit vorn: Das Virus scheint in Neuseeland so gut wie eliminiert zu sein. Anfang Juni gab es nur noch einen aktiven Fall, 22 Tote und zehn Tage lang keine Neuansteckung.
„Wenn man das Volk nicht an die Hand nehmen kann und kein Verständnis und Wille da ist, dann funktioniert auch die beste Politik nicht“, so David Brain von der Umfragefirma Stickybeak über die Meisterleistung an PR. „Vieles davon hat mit Jacinda Arderns persönlichem Stil und ihrer Empathie zu tun.“ Die Politikerin hat nicht nur einen Abschluss in Kommunikationswissenschaft, sondern postet regelmäßig persönlich auf Facebook. In der Pressekonferenz vor Ostern verkündete sie charmant, dass auch der Osterhase und die Zahnfee zu den notwendigen Service-Leistungen gehören. Spätestens seit diesem Auftritt schwappte „Jacindamania“ auf den Rest der Welt über. US-Medien kürten sie zum „Anti-Trump“.
„Nicht autoritär von oben herab, sondern authentisch und warmherzig beruhigte die junge Mutter im Plauderton die gesamte Nation.“ Das Video hat über 5,4 Millionen Aufrufe.
Facebook Screenshot
Legendär ist Arderns Satz aus den ersten Corona-Tagen: „Neuseeland hat nur 102 Fälle. Aber so viele hatte auch Italien mal.“ In einem Podcast-Interview erzählte die Premierministerin im April, dass nicht nur ihre medizinischen Berater sie zu den drastischen Schritten veranlasst hatten. Es waren Freunde in Europa, mit denen sie sprach. Ein „Kiwi“ in England war bereits schwer erkrankt. „Sie sagten mir: ‚Los, mach alles dicht, denn ich bin hier im Lockdown mit Tausenden von Menschen, die sterben. Schließt einfach alles.‘“ Nicht politisches Kalkül, sondern persönliche Betroffenheit bewegten Ardern dazu, die geographische Lage des Inselstaats als natürliche Barriere gegen COVID-19 zu nutzen.
Die Zeitverzögerung von zwei Wochen bis zu den ersten Ansteckungen in der Südsee half, um die globale Situation aus der Ferne besser einschätzen und von anderen Ländern lernen zu können. „Es fühlte sich riesig an“, gab Ardern rückblickend zu. Eine Woche früher wäre ihr eine Grenzschließung noch nicht in den Sinn gekommen. „Es war solch eine einfache, offensichtliche Entscheidung. (…) Wir haben nicht gezögert, weil das unsere Chance war, es anders zu machen.“
Es anders machen ist typisch: Als erstes Land der Welt gab Neuseeland Frauen das Wahlrecht und wurde zur nuklearfreien Zone. Der gleiche Ansatz zieht sich durch die Politik seiner 39-jährigen Regierungschefin, die einst DJ war und aus einer Mormonenfamilie stammt. Von der Religion sagte die Polizistentochter sich ab, aber der Blick auf das ärmliche Umfeld ihrer Herkunft blieb ihr erhalten. „Bei ihrer Antrittsrede im Parlament nannte sie Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung und Demokratie als ihre wichtigsten Werte“, so Michelle Duff, Autorin von Arderns unautorisierter Biographie.
Empathie schafft Vertrauen
Jacinda Arderns erste Schritte in der Labour-Partei erfolgten unter der damaligen Premierministerin Helen Clark, die bis 2008 regierte. The Atlantic sagte Clark, dass Ardern nicht auf die Menschen einpredige, sondern neben ihnen stehe. „Sie denken vielleicht sogar: ‚Nun, ich verstehe nicht ganz, warum die Regierung das macht, aber ich weiß, dass sie auf uns aufpasst.‘ Wegen ihrer Empathie vertrauen ihr so viele.“
Im März 2017 wurde Ardern stellvertretenden Chefin der sozialdemokratischen Labour-Partei. Bereits fünf Monate später übernahm sie die Parteiführung – nur sieben Wochen vor den Nationalwahlen. Als sie als Premierministerin antrat, war sie mit 37 nicht nur die jüngste Frau der Welt in diesem Amt, sondern auch schwanger. Nach Benazir Bhutto wurde sie als zweite Regierungschefin ebenfalls Mutter – und setzte auch damit neue Maßstäbe. Ihr Lebensgefährte, TV-Moderator und Angler Clarke Gayford, ist Vollzeitvater. Gemeinsam reisten sie mit ihrem Baby zur UN-Vollversammlung und gaben damit Arderns Rede zum Klimawandel zusätzlich Gewicht.
Die Empathie, mit der Jacinda Ardern zum Polit-Idol wurde, zeigte sich in einer der schwärzesten Stunden. Am 15. März 2010 erschoss ein Rechtsextremist in zwei Moscheen in Christchurch 51 Menschen. Wenige Stunden danach bezeichnete Ardern den Anschlag als „Terror-Akt“, legte ein schwarzes Kopftuch an und umarmte trauernde Angehörige: „Sie sind wir.“ Als US-Präsident Trump fragte, womit er helfen könne, antwortete sie: „Mit Mitgefühl und Liebe für alle muslimischen Gemeinschaften.“
Sechs Tage nach dem Attentat änderte sie das Waffengesetz: Halbautomatische Maschinengewehre wurden verboten. Aus den Reihen der Opfer von Christchurch war nur Dankbarkeit zu hören und kein einziger Aufruf zur Vergeltung. In Dubai wurde Arderns Konterfei samt Hijab auf einen Wolkenkratzer gebeamt. Zwei Monate nach dem Massaker setzte Ardern in Paris mit Emmanuel Macron und den Köpfen von Facebook und Technologie-Firmen den „Christchurch Call“ um, der die Verbreitung terroristischer Inhalte in den sozialen Medien verhindern soll. „Weibliche Führung“ wurde Synonym für mehr Menschlichkeit und Ardern laut einer Umfrage die beliebteste neuseeländische Premierministerin des Jahrhunderts.
Ende letzten Jahres musste sie eine weitere Herausforderung in ihrer kurzen Amtszeit meistern, als der Vulkan auf Whakaari White Island ausbrach. Die nächste Hürde, vor der sie steht, sind die verschobenen Wahlen im November. Die geplante Grenzöffnung zum Nachbarn Australien und einigen Südseeinseln steht als nächstes an, aber sie kann noch Monate dauern. Statt einer internationalen Öffnung steht Neuseeland eine massive Rezession bevor, mit einer prognostizierten Arbeitslosenrate von bis zu 26 Prozent.
Ardern kürzte ihr eigenes Gehalt um 20 Prozent und schlug die Vier-Tage-Woche vor, um den einheimischen Tourismus anzukurbeln. Ihre Lockdown-Maßnahmen bekamen von Wählern aller Couleur Zustimmung: 92 Prozent hielten das strikte Vorgehen gegen die Pandemie gerechtfertigt. Im Februar hätten laut Umfrage bereits 46 Prozent der „Kiwis“ Labour gewählt, seit der Coronavirus-Krise waren es Mitte Mai über 56 Prozent – den besten Wert, den je eine Partei im Lande hatte.
Kritik an „heiliger Jacinda“
Das anfängliche Hochgefühl, trotz der ökonomischen Lage unverwundbar zu sein, bekam in den letzten Monaten jedoch einen Knacks. Aus den angeblich streng gesicherten Quarantäne-Hotels für Rückkehrer nach Neuseeland gelangten Infizierungen in die Bevölkerung. Die Großstadt Auckland musste in einen zweiten Lockdown gehen. Es hagelte Kritik an der Sicherheit der geschlossenen Grenzen, Masken wurden erstmals auf öffentlichen Verkehrsmitteln und Flügen zur Pflicht. Im Vergleich zum Corona-infizierten Rest der Welt geht das Leben down under jedoch weitgehend normal weiter. Das Präventions-Paradox durch den „Zaun oben an der Klippe, statt des Rettungswagens unten“, wie es Arderns Lebensgefährte auf Twitter beschrieb, führte bereits zu einer gerichtlichen Klage rund um die Legalität des Lockdowns und zu Protesten ähnlich wie den Hygiene-Demos in Deutschland.
Buchautorin Michelle Duff bestätigt, dass sich die internationale Popularität zu Hause nicht genauso fortgesetzt hat: „Es lässt sich nicht leugnen, dass es noch viele Bereiche gibt, in denen die Regierung nachholen muss: Wohnraum, Soziales und indigene Rechte.“ Konservative und Neo-Liberale behaupten, dass der Starkult um die „heilige Jacinda“ verschleiere, wie autoritär ihr Vorgehen in Sachen Corona gewesen sei. Dass Ardern ihr weltweiter Ruhm jetzt negativ ausgelegt wird, hält Duff jedoch für „albern und sexistisch“ – kein Mann in einer Machtposition müsse sich dafür rechtfertigen. —
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals im femMit-Magazin 1/2020
Foto: Copyright by World Economic Forum / Boris Baldinger