Regierungserfahrung allein kein Garant für politischen Erfolg
Die Kür von Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin der Grünen hat breite Medienberichterstattung nach sich gezogen. Dabei spielen ihr Muttersein, ihr Alter und ihre bisherigen Karrierestufen für viele Medien eine zentrale Rolle. femMit hat das Politikberaterinnen-Netzwerk de’ge’pol W gefragt, ob das wirklich sein muss.
Annalena Baerbock tritt als Kanzlerkandidatin der Grünen zur Bundestagswahl an. In den Medien wird immer wieder ihre fehlende Regierungserfahrung thematisiert. Welche Kompetenzen braucht denn eine Kanzlerin oder ein Kanzler?
de’ge’pol W: Ein Kanzlerin oder ein Kanzler braucht die strategische Fähigkeit, politisch zu gestalten – verbunden mit Zielen und Werten, nach denen sich diese Gestaltung ausrichtet. Die Person braucht außerdem die taktische Fähigkeit, politische Macht zu bündeln und politische Mehrheiten zu gewinnen, und die Durchsetzungskraft, so gesellschaftliche Veränderung umzusetzen. Dazu kommt die Bereitschaft, natürlich, innerhalb der demokratischen Spielregeln zu agieren und gleichzeitig Führungsverantwortung zu übernehmen. Innovationskraft, die sich durchaus aus darin ausdrücken kann, eine bestimmte Funktion zum ersten Mal auszuüben. Und die Fähigkeit, Prioritäten zu setzen, die den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen entsprechen, und die eigene Politik daran konsistent auszurichten. Und, nicht zuletzt: den Willen und die Fähigkeit, die eigene Politik zu erklären. Immer wieder, und in Richtung aller unterschiedlichen Gruppen in unserer Gesellschaft. Also, wer das alles kann, kann Kanzlerin oder Kanzler – und zwar ganz egal, ob er oder sie bereits Regierungserfahrung hat.
Annalena Baerbock will vieles anders machen, damit tritt sie an. Ist ihre fehlende Regierungserfahrung vielleicht auch eine Chance?
de’ge’pol W: Ganz klar: ja. Jede Kandidatin und jeder Kandidat wird mit einer eigenen Kombination aus Kompetenzen, Erfahrungen und Ideen antreten. Keine Regierungserfahrung heißt ja auch: Noch keine Erfahrung mit Regierungssscheitern. Und kann idealerweise heißen: Sich trauen, wirklich neue Politikwege zu gehen, Politik neu zu gestalten. Die Welt verändert sich, unsere Gesellschaft verändert sich, und daraus folgt, dass sich Politik verändert und auf diese Veränderungen eingeht. Somit verändern sich auch die Anforderungen, die an Politiker:innen gestellt werden. Umgekehrt ist ja übrigens unstrittig, daß Regierungserfahrung alleine kein Garant für politischen Erfolg ist. Auch wir als Bürger:innen – oder speziell als Politikberaterinnen – sollten Veränderungen offen begegnen und sie mitgestalten.
Wie war das damals, als Angela Merkel zur Wahl antrat? Gab es diese Bedenken auch?
de’ge’pol W: Es gab natürlich große Vorbehalte gegenüber Angela Merkel als Frau, daran erinnert sich bestimmt jeder. Zu jung, eine Ostdeutsche, kein eigenes Profil, das kam alles noch hinzu als Vorurteil. Damit entsprach sie einfach nicht dem Normbild eines Politikers, der durch die Bonner Republik geprägt wurde. Wie toll, gerade nach 16 Jahren einer weibliche Kanzlerin wieder auch eine Frau in der politischen Auswahl zu haben, deren politische Ideen jeder Wähler und jede Wählerin für sich prüfen kann, und die hoffentlich nach ihrer Kompetenz und ihrem Programm und nicht nach ihrem Geschlecht oder ihrem Alter beurteilt wird.
Warum wird Baerbocks Rolle Mutter in den Medien so stark thematisiert? Bei Männern spielt das doch auch keine Rolle.
de’ge’pol W: Unglaublich oder? Wir würden uns mehr Originalität seitens der Medien wünschen. Polemisch könnten wir sagen: Bei Männern braucht niemand nach der Vereinbarkeit von politischer Karriere und Familie fragen, weil sich da ja die Frau zuhause drum kümmert… Aber ernsthaft: Es ist eine grundlegend politische Aufgabe, also die Verantwortung eines modernen demokratischen Staates, die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich Männer und Frauen für ihren Karrieren und ihr Lebensmodell frei entscheiden können. Leider ist das immer noch nicht selbstverständlich. Sondern es wird zu oft noch erwartet, dass man für ein Spitzenamt in der Politik das Familienleben opfert. Also her mit mit neuen Vorbildern!
Sie selbst sagte: „Ich habe zwei kleine Kinder und ich will nicht aufhören Mutter zu sein, bloß weil ich Spitzenpolitikerin bin. Es wird Momente geben, da bin ich nicht da, weil es da wichtiger ist, dass ich bei meinen Kindern bin.“ Erwartet uns hier vielleicht auch eine ganz neue Form der Bundeskanzlerschaft, in Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
de’ge’pol W: Es wäre schön, wenn die Selbstverständlichkeit, mit der z.B. skandinavische Spitzenpolitikerinnen ihr Amt und ihr Leben organisieren, auch in Deutschland Schule machen könnte. Möglicherweise wird der politische Betrieb in seinem Ablauf verändert, den heutigen Lebensmodellen angepasst. Die Bundesrepublik hat mit ihren Strukturen für den Regierungsapparat doch alle Voraussetzungen dazu, auch mit Veränderung stabil zu bleiben. Politik ist ja das Resultat unseres Zusammenlebens und soll Impulse dafür geben – und nicht als Korsett wirken.
Es braucht also dringend ein angemessenes (mediales) Framing in dieser Frage, das gar nicht erst die Eignung für ein politisches Amt mit der Familiensituation oder dem Geschlecht verbindet, sondern das auf die Kompetenzen und politischen Positionen fokussiert.
Worauf muss sich Annalena Baerbock im Wahlkampf gefasst machen?
de’ge’pol W: Auf all das Übliche, siehe oben, und möglicherweise auch auf einiges an unangenehmen und unangemessenen Reaktionen. Der Spiegel hat ja vor kurzem die Resultate einer Umfrage unter Bundestagsabgeordneten veröffentlicht: Frauen sehen sich deutlich mehr Anfeindungen und Verunglimpfungen ausgesetzt, insbesondere mit sexueller und sexistischer Konnotation, als Männer.
Manches davon kann man in der Berichterstattung über Annalena Baerbock leider bereits feststellen: Ihr Alter, ihre Rolle als Mutter, ihre Stimme werden deutlich häufiger thematisiert als bei männlichen Politikern. Darauf wird sie sich sicher einstellen – wo möglich einfach mit der nötigen Gelassenheit und, wo notwendig, mit der Bereitschaft Sexismus deutlich entgegenzutreten. Wir sind zuversichtlich, dass es ihr gelingen wird, souverän und sachlich in diesem Wahlkampf das zu vermitteln, wofür sie steht.
Wir bei de’ge’pol W beobachten und begleiten übrigens auch fünf Kandidatinnen, die sich der Bundestagswahl im Herbst stellen, und nun ihren Wahlkampf bestreiten: Wiebke Winter (CDU), Isabel Cademartori (SPD), Caroline Krohn (Grüne), Ann Cathrin Riedel (FDP) und Anja Mayer (Linke). Wir sind sehr gespannt darauf, welche Erfahrungen sie in dieser Zeit machen werden!
Info: de’ge’pol W ist das Netzwerk der Politikberaterinnen – innerhalb der de’ge’pol (Deutsche Gesellschaft für Politikberatung e.V.) https://www.degepol.de/degepol-w Durch fachlichen Austausch und eine bessere Vernetzung fördert de’ge’pol W die Sichtbarkeit und die Karrieren von Politikberaterinnen. Das Netzwerk richtet sich an Frauen aller Karrierestufen, die im Bereich Politikberatung, Public Affairs, Government Relations etc. in Unternehmen, Beratungen, Verbänden, NGOs, wissenschaftlichen Einrichtungen, Parteien und öffentlichen Institutionen tätig sind.