Überall Krisen – und dann auch noch KI!

Warum empfinden wir bei neuen Technologien eher Angst als Begeisterung?

Gong, 20 Uhr, die Tagesschau: Kriege, Konflikte, Katastrophen – die Welt ist aktuell in einem erbärmlichen Zustand. Und als ob das nicht schon genug Dinge mit K wären, die uns den Schlaf rauben, kommt dann auch noch KI dazu. Künstliche Intelligenz. Wir hatten die Pandemie als Weltgemeinschaft gerade leidlich überstanden – und jetzt sollten wir uns bei all den Krisen auch noch mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen? Puh …

Text: Andrea Hansen

Puh vor allem, weil die Auseinandersetzung mit dem Thema oft zwischen kritiklosem „Wow“ der digitalen Elite aus Early Adoptern und den Weltuntergangsszenarien aus dem Lager der Beharrungskräfte pendelt. Ruhige, erklärende, abwägende oder gar abwartende Sichtweisen kommen in unserer Aufmerksamkeitsökonomie oft zu kurz. Zu oft werfen sich beide Seiten wechselseitig ideologische Verblendung vor – End of Story.

Wir haben uns an das Laute und Grelle gewöhnt und sind zu tolerant gegenüber starken Meinungen (oft bei wenig Ahnung) geworden. Komplexe oder komplizierte Sachverhalte verhandeln weite Teile der Gesellschaft nur noch oberflächlich und wundern sich dann, dass sie verunsichert zurückbleiben. Dabei gilt immer noch: Wissen ist Macht. Und Wissen beruhigt. Genau darum bräuchten wir mehr Bereitschaft zu tiefergehenden und länger dauernden Debatten und gesellschaftlichen Lernprozessen. 

„KI ist wahr­scheinlich das Beste oder das Schlimmste, was der Menschheit passieren kann.“
Stephen Hawking

Und was wir auch brauchen: Ambiguitätstoleranz. Das ist die Fähigkeit, „Vieldeutigkeit und Unsicherheit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können“ und „das Spannungsverhältnis zwischen den unvereinbaren Mehrdeutigkeiten und Gegensätzen auszuhalten und eine Interaktion trotz allem wohlwollend fortführen zu können, ohne sich dabei unwohl zu fühlen oder aggressiv zu reagieren“, wie es das Institut für Interkulturelle Kompetenz und Didaktik e. V. definiert. Der Physiker Stephen Hawking muss eine ausgeprägte Ambiguitätstoleranz gehabt haben: „KI ist wahrscheinlich das Beste oder das Schlimmste, was der Menschheit passieren kann.“ Mehr Mehrdeutigkeit und Unsicherheit geht kaum in einem Satz. Wie das Thema aufschlägt, liegt also am Einzelnen. 

Googelt man „Technologiefeindlichkeit“, erhält man fix den Befund, dass das in Deutschland eher die Haltung der Mehrheit als eine Einzelmeinung ist. Veränderung wird bei uns zu oft als Verschlechterung gedacht. Nur konsequent in einem Land, in dem Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt Menschen mit Visionen zum Arzt und nicht in F&E-Abteilungen schicken wollte.

„Die Möglichkeit, in einfacher 
Sprache mit KI-Anwendungen 
zu interagieren, ist ein Schritt in 
Richtung Technologie-
Demokratisierung.“
Dr. Julia Imlauer

Dagegen sein können wir gut in Deutschland. Das hat viel damit zu tun, welche Mühe wir uns geben, alle im Diskurs mitzunehmen. Versagen wir dabei, bleiben Begeisterung für neue Wege, das Umarmen des Unbekannten, Aufbruch in Richtung neuer Horizonte auf der Strecke. KI-Expertin Dr. Julia Imlauer bedauert das. Sie guckt ganzheitlich auf das Thema und sieht auch offene Fragen, aber vor allem Chancen: „Die Möglichkeit, in einfacher Sprache mit KI-Anwendungen zu interagieren, ist ein Schritt in Richtung Technologie-Demokratisierung.“ 

Sprachinterfaces sind eine große Hilfe z. B. für Menschen mit Sehbeeinträchtigung, und sie können auch in der Pflege eingesetzt werden, um direkt mit Menschen zu interagieren, sagt sie: „Zum Beispiel in Gesprächen, für die das Pflegepersonal oft nicht genug Zeit hat, die jedoch wichtig sind, um die geistige Aktivität zu fördern.“ Dass Menschen in Altenheimen oder Kliniken froh sind, in Austausch zu treten – und sei es mit einer Maschine, weil der Mensch ja doch nicht dazu kommt, vor lauter Fachkräftemangel – weiß man aus Pilotversuchen mit sozialen Robotern mittlerweile.

„Ich glaube, künstliche Intelligenz wird unser Partner sein. Wenn wir sie missbrauchen, wird sie ein Risiko sein. Wenn wir sie richtig einsetzen, kann sie unser Partner sein“, orakelt Masayoshi Son, Tech-Unternehmer und laut Forbes der reichste Mann Japans, eher optimistisch. Der Faktor Mensch ist also vor allem bei ethischen Rahmenbedingungen gefragt. 

Denn Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind keine Kernkompetenzen von KI. Doch alles, was über Mustererkennung läuft, kann die künstliche Intelligenz (abhängig von der Größe der lernenden Maschine) im Zweifel besser als die menschliche. So lernt eine KI schon mal ungeplant als Nebenprodukt eine neue Sprache und überrascht damit sogar ihre Schöpfer.  Size matters: Es hängt alles von den Kapazitäten ab, die einer KI zur Verfügung stehen. 

Je mehr Info man vorn reinsteckt, desto mehr Möglichkeiten kommen hinten raus, grob gesagt. KI als vollumfänglicher Menschenersatz bleibt für Dr. Julia Imlauer erst mal Zukunftsmusik: „Starke KI-Konzepte lernen wie ein Mensch, entdecken unerwartete Zusammenhänge und entwickeln innovative Lösungen. Doch von der Entwicklung einer solchen starken KI ist die Menschheit noch weit entfernt. Das bleibt vorerst Filmen wie iRobot vorbehalten.“

Die Angst, die sich oft genug aus der Science-Fiction speist, in der Kollege Computer nach der Macht greift und die Auslöschung der Menschheit anstrebt, ist (noch) unbegründet. Ja, die Jobwelt wird sich verändern – Tätigkeiten werden wegfallen. Doch angesichts des wachsenden Fachkräftemangels wird das vor allem eine soziale bzw. politische Frage: Schaffen wir den digitalen Strukturwandel? Heben wir Potenziale von Menschen durch Weiterbildung, anstatt sie auszumustern? Oder versagen wir dabei? Die Frage müssen wir uns schon selbst beantworten, denn es ist eher eine des Wollens als des Könnens. Dabei kann uns KI nicht wirklich helfen.

Aktuell sieht es so aus, als ob potente Systeme für die ganz großen Weiterentwicklungen sowieso wieder erst mal in Übersee stehen werden. Da mitzuhalten bleibt für Europa schwierig. Doch Europa hat einen anderen Exportschlager zu bieten: Regulation. Und bei KI gibt es jede Menge Regulierungsbedarf: Urheberrecht, Persönlichkeitsrecht, Haftungsfragen, um nur einige Punkte zu nennen. Für Behörden oder Gesetzgeber in vielen Ländern weltweit dient der EU-Standard als Vorbild – oder wie der „Spiegel“ schreibt: „Die Europäische Union: Die Beste aller Weltmächte“.

Denn in dieser Frage ist das Rennen noch völlig offen – wie gestalten wir den regulatorischen Rahmen für KI? Bei Social Media lief Europa nur hinterher und fühlt sich den großen US-Tech-Konzernen mit ihren Plattformen bis heute oft ausgeliefert. Bei der KI kann die EU versuchen, den entscheidenden Schritt schneller zu sein. Den Fehler, aus Angst den Anschluss zu verpassen, gar nicht innezuhalten und eine so einschneidende Entwicklung nicht kritisch-konstruktiv zu begleiten, will sie nicht wiederholen. 

„Wir müssen menschliche Werte in 
die Zielsysteme einbauen, um einen 
rechtlichen und wirtschaftlichen 
Rahmen zu schaffen, der Anreize 
für positives Verhalten bietet.“
Steve Omohundro

„Wir müssen menschliche Werte in die Zielsysteme einbauen, um einen rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmen zu schaffen, der Anreize für positives Verhalten bietet“, findet auch der Stanford-Absolvent und amerikanische AI-Wissenschaftler Steve Omohundro. Diese Herausforderung anzunehmen hilft auch der Akzeptanz neuer Technologien. Denn genau die fatalistische Sicht- bzw. Verhaltensweise, der Mensch sei technologischen Entwicklungen ebenso ausgeliefert wie Naturkatastrophen, verunsichert und ängstigt die breite Masse. 

Dabei braucht es Akzeptanz. Und ja, auch Begeisterung für neue Technologien, wenn sie die Gesellschaft nicht spalten, sondern voranbringen sollen. Schlagzeilen wie „Studie: KI könnte 300 Millionen Arbeitsplätze ersetzen“ sind da wenig hilfreich. Und Führungskräfte, die sich dem Thema KI nur von der Ersparnisseite nähern, ebenso wenig. Auch hier hilft der Blick über den deutschen Tellerrand hinaus. Bei der OECD weiß man, dass andere Länder häufig schneller mit Innovationen vorankommen, weil sie in Gesetzes-, Bau- oder sonstigen Vorhaben frühzeitig ehrliche Beteiligungsprozesse integrieren. 

Hierzulande werden diese zu oft wie eine lästige Pflicht abgearbeitet. Dabei bieten sie großes Potenzial zur frühzeitigen Problemerkennung (Sachbearbeiter:innen bemerken bspw. oft besser als juristisches Fachpersonal, wo ein Gesetz nicht „funktioniert“) oder heben via Schwarmintelligenz Verbesserungspotenziale – wenn man es den Beteiligten zutraut. 

Wie wir über KI sprechen wird entscheiden, ob es eine Erfolgsgeschichte für Europa wird. Gibt es mehr Horrorszenarien als Hoffnungsschimmer, mehr Untergangsprognosen als Leistungsversprechen, mehr Belastungsproben als Entdeckerspaß im beruflichen Alltag? Wir haben es in der Hand. Ach ja, und es wäre gut, wenn wir uns einen zweiten KI-Witz überlegen: Jeden Redebeitrag vom Konzernjubiläum bis zu Omas Geburtstag mit „Ich habe mir da von ChatGPT mal was schreiben lassen“ anzufangen, überzeugt bislang weder von den unendlichen Möglichkeiten, die die KI uns bietet, noch von der Überlegenheit der menschlichen Kreativität … —

Foto: thisisengineering

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