Weibliche MINT-Revolution kommt 

Den MINT-Bereich in Deutschland prägen zu 15,5 Prozent Frauen. Frauen sind damit in den Fachrichtungen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik noch immer unterrepräsentiert. Dabei sind weibliche Talente für Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung unverzichtbar. Warum ergreifen sie seltener einen MINT-Beruf? Was bewirken Initiativen wie der „Girls’ Day“, Förderprogramme und Co.? Und wie kann die aktuelle Situation verbessert werden?

Text: Sofie Flurschütz

Frauen sind erfolgreiche Ingenieurinnen. Frauen sind Nobelpreisträgerinnen in den Naturwissenschaften. Frauen betonieren als Maurermeisterinnen Gebäude, gestalten als Informatikerinnen IT-Strukturen oder fliegen als Astronautinnen ins Weltall. MINT-Frauen sind überall in unserem Leben! Das ist auch nicht verwunderlich, denn MINT deckt Disziplinen ab, die inhaltlich weit auseinandergehen und zahlreiche Möglichkeiten bieten – ob in Ausbildungsberufen oder im Studium. Das Institut der deutschen Wirtschaft stellte im MINT-Herbstreport 2021 fest, dass mehr als eine Million Frauen, und zwar 1.079.600, in Deutschland in MINT-Berufen tätig sind (Stand: März 2021). 

»Die Pädagoginnen gaben den Jungs der Klasse Zeit auf unserem Stand, während sie den Mädels andere Stände mit Plüschtieren, Theater-Angeboten oder Schminkplätzen empfahlen.«

Prof. Dr. Oksana Arnold, Professorin für Theoretische Informatik
und Künstliche Intelligenz der Fachhochschule Erfurt

Alles andere als Lichtgeschwindigkeit

Die Zahl der MINT-Studentinnen hat sich innerhalb von 20 Jahren mehr als verdoppelt: Laut Statistischem Bundesamt studierten im Jahr 2000 circa 162.000 Frauen in einem MINT-Studium. 2020 waren es bereits etwa 349.000. Wie langsam die Fortschritte allerdings sind, zeigt die prozentuale Entwicklung: Im selben Zeitraum ist der Anteil von weiblichen Studierenden in MINT-Fächergruppen von etwa 28 Prozent auf etwa 32 Prozent gestiegen. Nur knappe vier Prozent Wachstum – wie kann das sein? An mangelnder Qualifikation der Frauen liege es jedenfalls nicht, sagt Prof. Dr. Oksana Arnold, Professorin für Theoretische Informatik und Künstliche Intelligenz der Fachhochschule Erfurt. Das größte Problem seien sich hartnäckig haltende Stereotype. Beispiel: „Auf einer Erfurter Messe für Kinder und Jugendliche ist es mir immer wieder passiert, dass eine Schulklasse vor unserem mit LEGO Mindstorms Bausätzen bestückten Stand stehen blieb. Die zugehörigen Pädagoginnen gaben den Jungs der Klasse Zeit auf unserem Stand, während sie den Mädels andere Stände mit Plüschtieren, Theater-Angeboten oder Schminkplätzen empfahlen“, schildert Arnold. Je jünger die Schülerinnen sind, desto stärker seien Bezugspersonen Autoritätspersonen, denen sie folgen. Auch gebe es immer wieder Eltern, die ihren Töchtern sagen, dass Technik nichts für sie ist. Dazu komme, dass Jungs häufiger bei ihren Explorationen unterstützt werden, während bei Mädchen oft darauf geachtet werde, dass sie Regeln einhalten und nichts kaputt machen. Das führe dazu, dass sich viele Mädchen weniger an technische Geräte trauen und den Umgang mit ihnen weniger lernen. Arnold wünscht sich daher, dass „sich mehr Schülerinnen im MINT-Bereich ausprobieren können, zerlegen, beobachten und begreifen dürfen – gegebenenfalls auch mit einer Person, die geduldig Zusammenhänge erklärt und die eigene Faszination teilt“.

Die Mehrheit bleibt männlich

Während der Anteil von Studienanfängerinnen insbesondere in den Bereichen Informatik, Maschinenbau/Verfahrenstechnik sowie Elektrotechnik in den letzten Jahren angestiegen ist, hat sich der Anteil von Frauen im dualen und nicht-akademischen Ausbildungsbereich von MINT-Berufen laut dem Bundesinstitut für Berufsbildung kaum verändert. Vielmehr verharrt er auf geringem Niveau. So lag der Anteil von Frauen an den Neuabschlüssen von Ausbildungsverträgen im Jahr 2019 bei Produktionsberufen insgesamt deutlich unter zehn Prozent. Gründe für diese Stagnation: mangelnde Bewerberinnenzahl auf Ausbildungsplätze und Vorbehalte gegenüber Frauen in männlich dominierten Berufen. In einem von Männern geprägten Bereich zu arbeiten, findet Judith Krauter, Schornsteinfeger-Meisterin und technische Beraterin am Landesinnungsverband des Schornsteinfegerhandwerks Baden-Württemberg, absolut nicht anstrengend. „Es spielt in unserem Handwerk keine Rolle, ob eine Frau oder ein Mann die Tätigkeiten ausführt – wichtig ist die Qualität“, sagt Krauter und ergänzt: „Sicherlich kann es mal vorkommen, dass Menschen verblüfft sind, dass eine Frau als Schornsteinfegerin ins Haus kommt. Die Überraschung darüber ist aber normalerweise positiv.“ 2019 betrug der Frauenanteil bei neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen im Dienstleistungsberuf Schornsteinfeger:in etwa 13 Prozent.

Anteil an MINT-Studentinnen gemessen an allen MINT-Studierenden im Zeitraum 2009 bis 2019: Schweiz: 22 Prozent, Deutschland: 28 Prozent, USA: 34 Prozent, Schweden 36 Prozent, Marokko 45 Prozent.

Mehr MINT-Frauen in Entwicklungsländern

Dass MINT-Jobs hauptsächlich eine Männerdomäne sind, ist fast überall auf der Welt gleich. Überraschend ist jedoch, dass das Verhältnis von Studentinnen und Studenten in ärmeren Ländern deutlich ausgeglichener ist als in reichen Industrienationen. So beträgt der Anteil von MINT-Absolventinnen laut UNO-Zahlen in der Schweiz 22 Prozent, in den USA 34 Prozent und in Schweden 36 Prozent. Demgegenüber steht beispielsweise Marokko mit einem Frauenanteil von 45 Prozent. „Studierende, die wenig wohlhabend sind, wählen eher einen MINT-Beruf, weil sie sich davon ein besseres Einkommen versprechen. Wer schon reich ist, gönnt sich eher ein Luxusstudium“, sagt die Zürcher Ökonomieprofessorin Prof. Dr. Dr. Margit Osterloh. IT-Prüfungsleiterin Ronja Wagner sieht das ähnlich: „Uns geht es in Deutschland zu gut. Viele junge Frauen wollen deshalb lieber Fächer studieren, bei denen sie das Gefühl haben, etwas Gutes für die Gesellschaft tun zu können, oder die sie als persönlich interessant empfinden, ohne dabei Rücksicht auf ihre zukünftigen beruflichen und finanziellen Chancen zu nehmen“, meint Wagner und ergänzt: „Gutes für die Gesellschaft können auch Frauen bewirken, die nicht soziale Arbeit studiert haben – so hart das klingen mag.“ Um neben strukturellen Veränderungen auch mehr wohlhabende Frauen für MINT-Berufe zu begeistern, könnten laut Osterloh typische Männerstudiengänge mit „weiblichen Elementen“ kombiniert werden. Beispielsweise hat der Studiengang Biomedizin an der Universität Zürich einen Frauenanteil von etwa 80 Prozent. Darüber hinaus nennt sie Quoten und das qualifizierte Losverfahren als mögliche Hebel, den Frauenanteil zu erhöhen. Sie betont, dass bei der Wahl des Studiums auch andere Faktoren als der Wohlstand entscheidend sind, zum Beispiel die Stärke von Frauen- bzw. Mütter-Stereotypen.  

Klischees und Stereotype ade

„Frauen können nicht rechnen“ oder „MINT-Fähigkeiten und weibliche Interessen schließen sich aus“ – Stereotype begegnen uns immer wieder. Diese Vorurteile und Erwartungen an Mädchen und Frauen sind ein Grund, warum im MINT-Bereich in Deutschland 2021 nur 15,5 Prozent aller Beschäftigten weiblich waren. Auch das MINT Nachwuchsbarometer 2021 zeigt Herausforderungen in der MINT-Bildung auf: Keine klischeefreie MINT-Bildung bei Lehrkräften, eine genderspezifische Fächerwahl, die sich seit Jahren kaum verändert, und Sachsen-Anhalt als einziges Bundesland mit dem eigenständigen Fach Technik für alle Klassenstufen. Es gibt noch viel zu ändern: die coronabedingten Lernlücken schließen, die Digitalisierung der Bildung weiter voranbringen, die Potenziale der Frauen durch Mentoring, Berufsorientierung und besseres Feedback erschließen sowie die Chancen des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes nutzen. Nicht zu vergessen: die Argumente für einen MINT-Beruf – wie das hervorragende Ausbildungssystem, vielfältige Tätigkeiten, hohes Einstiegsgehalt und großartige Karriereperspektiven – hervorheben.

Wenn ganze Schulklassen zum Girls‘ Day an die Erfurter Fachhochschule kommen, meist in der achten oder neunten Klasse, existieren häufig bereits klare Berufsbilder bei vielen Schülerinnen – oft jenseits von MINT.

Um Frauen die MINT-Berufe näherzubringen und so die Frauenquote in diesen Bereichen zu steigern, investiert das Bundesministerium für Bildung und Forschung seit Jahren gezielt in zahlreiche Initiativen, wie den „Girls‘ Day“, „Klischeefrei“ oder „Komm, mach MINT“. „Ich halte solche Initiativen für sehr sinnvoll, jedoch müssten Angebote im MINT-Bereich zeitiger in der Entwicklung der Mädels anfangen“, meint Arnold. Wenn ganze Schulklassen zum Girls‘ Day an die Erfurter Fachhochschule kommen, meist in der achten oder neunten Klasse, existieren häufig bereits klare Berufsbilder bei vielen Schülerinnen – oft jenseits von MINT. Dann absolvieren sie den Girls‘ Day als Pflichtveranstaltung. „Viel besser ist es, wenn Schülerinnen immer wieder Chancen erhalten, sich mit MINT-Themen auseinanderzusetzen und dieses faszinierende Gebiet erkunden können. Deshalb bieten wir Kinder-Uni-Veranstaltungen an, führen AI4-Kids-Kurse mit Studierenden der angewandten Informatik durch und nehmen an Sommercamps teil“, berichtet die Professorin.

Große Portion MINT-spiration

Wie es gelingen kann, den MINT-Bereich diverser und gerechter zu machen, weiß Dr. Ulrike Struwe, Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V.: „Junge Frauen brauchen Informationen zu Karrieren in MINT, Praxiswissen und Vorbilder, die zeigen, dass sie gerne und mit Spaß in MINT-Berufen tätig sind.“ Zudem sei es wichtig, das Selbstvertrauen von Mädchen zu stärken und den Nutzen von MINT zu verdeutlichen. Nur so erfahren junge Frauen, in welchem Bereich sie ihr Fachwissen später einsetzen können. „Vielen ist es ein großes Anliegen, etwas für den Klimaschutz zu tun und die Umweltbelastungen auf der Erde zu verringern. Sie interessieren sich für Möglichkeiten, Autos emissionsfrei fahren zu lassen, Apps oder technische Geräte für den Einsatz in der Medizin zu entwickeln“, erläutert Struwe. Sie betont, dass alle Frauen und Männer den Beruf wählen können sollten, den sie sich wünschen – unabhängig von gesellschaftlich vorgegebenen Rollenerwartungen. Vielfalt führe zu besseren Ergebnissen und Chancengerechtigkeit in Bildung und Ausbildung sorge dafür, dass alle Talente sich entwickeln und mehr Frauen für MINT gewonnen werden. „Wenn du dich für MINT interessierst oder darin eine Stärke von dir entdeckst, geh deinen Weg! Lass dich nicht beirren durch Images, Klischees und Quoten“, appelliert Sarah Engel, Senior Managing Consultant beim IT- und Beratungsunternehmen IBM, und ergänzt: „Wir brauchen auch weiterhin mehr Frauen, die einfach machen und somit Fortschritt ermöglichen und gleichzeitig auch Rolemodel für andere sind.“ Die Vision „Frauen verändern Gesellschaft“ verfolgt auch die Femtec GmbH. Seit 2001 unterstützt das Unternehmen weibliche MINT-Talente mit Trainings und Industriekontakten. „Ich wünsche mir mehr MINT-Frauen, damit diese den technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt fair und nachhaltig gestalten“, sagt Marion Zeßner, Geschäftsführerin der Femtec GmbH. Mehr Frauen für den MINT-Bereich zu begeistern, ist dringend notwendig. Schließlich werden diese Fächergruppen im Zuge der Digitalisierung und des Klimawandels immer wichtiger. MINT-Fähigkeiten bieten die Möglichkeit, unsere Zukunft zu gestalten: Menschen zum Mond zu schicken, die Welt in der Hosentasche zu haben und zum Beispiel Impfstoffe zu entwickeln. Damit diese Zukunft auch gleichberechtigt ist, braucht es die Partizipation von Frauen – ganz ohne Stereotype —

Hinweis: Dieser Text erschien in femMit-Ausgabe 4: 1/2022

Foto: Adobe Stock / Friends Stock

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