Wie Sportverbände Frauen benachteiligen

… und wie das verändert werden kann

von Lisa Gerth

Peking 2015, Leichtathletik Weltmeisterschaft. Cindy Roleder steht im Finale über 100 Meter Hürden. Ihre Paradedisziplin. Entschlossen blickt sie Richtung Ziel, bevor sie sich im Tiefstart positioniert. Wie versteinert bleibt sie in der Position. Sobald das Startsignal ertönt, brüllt die Menge. Cindy Roleder drückt sich kraftvoll aus dem Startblock und gleitet über jede einzelne Hürde. Bei der siebten kann sie zu den Führenden aufschließen. Im Ziel stoppt die Uhr bei 12,59 Sekunden. Persönliche Bestzeit. Silbermedaille bei der WM. Cindy Roleder reißt die Arme in die Luft und jubelt.

Der zweite Platz bei der WM von Peking ist Cindy Roleders bisher größter Erfolg. Es folgen der Europameistertitel 2016 und Bronze bei der Heim-EM 2018 in Berlin. Damit gehört sie zu den besten deutschen Hürdensprinterinnen. 

Solche Erfolge von Sportler:innen sind möglich, weil Verbände Strukturen schaffen, in denen sich die Athlet:innen bewegen können. Ausgebildete Trainer:innen, gepflegte Sportstätten oder medizinische Betreuung – für all das sorgen Verbände und Vereine. 

Besonders die internationalen Verbände bestimmen die Regeln des Sports. Wann und wo werden Wettkämpfe ausgetragen? Wer darf in welchen Disziplinen teilnehmen? Wie teuer werden Fernsehrechte verkauft und welche Sponsor:innen füllen die Bandenwerbung im Stadion? Ohne diese Arbeit wären internationale Wettkämpfe schlicht nicht möglich. Die Verbände bestimmen die Spielregeln. 

In Deutschland ist der Deutsche Olympische Sportbund der Dachverband aller Sportverbände. In ihm sind 66 Spitzenverbände organisiert, davon sind 38 Fachverbände olympische Sportarten und 28 Fachverbände nicht olympische Sportarten.

Männer im Überfluss

Weltweit ist die Führungsriege der Sportverbände männlich. Gianni Infantino (Präsident des Internationalen Fußballverbandes), Thomas Bach (Präsident des Internationalen Olympischen Komitees) oder Hamane Niang (Präsident des Internationalen Basketballverbandes) prägen die sportpolitische Welt. Bei den Olympischen Sommerspielen 2021 in Tokio war die Spanierin Marisol Casado, Präsidentin der Internationalen Triathlon Union, die einzige Frau an der Spitze eines Sportverbandes, der Athlet:innen zu dieser Veranstaltung geschickt hat. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Belange von Frauen kein Gehör finden. Ein Vorfall, der 2021 für Empörung gesorgt hat, macht die Missstände deutlich: Die norwegischen Beachvolleyballerinnen trugen bei der Europameisterschaft in Wien Radlerhosen, statt wie vorgeschrieben Bikinihöschen. Die Europäische Handballföderation verhängte daraufhin eine Geldstrafe von 150 Euro für jede Athletin. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Regelwerk: „Spielerinnen müssen Bikinihosen tragen […] Sie müssen körperbetont geschnitten sein, mit einem hohen Beinausschnitt. Die Seitenbreite darf höchstens 10 cm betragen.“

Ich möchte meine Tochter nicht länger als eine Nacht alleinlassen. Da ist ein Trainingslager über mehrere Wochen auf einem anderen Kontinent nicht zu organisieren. Ich verstehe auch nicht, warum Kinder nicht mit ins olympische Dorf dürfen.

Cindy Roleder ist Leichtathletin in den Disziplinen 100-Meter-Hürdenlauf und Siebenkampf (100 Meter Hürden, Hochsprung, Kugelstoßen, 200 Meter, Weitsprung, Speerwurf und 800 Meter). Bei der Weltmeisterschaft 2015 in Peking gewann sie die Silbermedaille im 100-Meter-Hürdenlauf mit ihrer persönlichen Bestzeit von 12,59 Sekunden. Foto: IMAGO / Fotostand

Kind und Karriere

Auch Cindy Roleder musste spüren, dass die Strukturen im Deutschen Leichtathletikverband nicht auf Sportlerinnen zugeschnitten sind. Im Januar 2021 brachte sie ihre Tochter zur Welt. Seitdem versucht sie, Leistungssport und Familie zu managen. Während der Schwangerschaft und nach der Geburt hat sie keine Unterstützung vom Deutschen Leichtathletikverband bekommen. „Ich verstehe, dass jede Frau anders ist und andere Voraussetzungen hat. Trotzdem hätte ich mir gerade bei Rückbildung und Beckenbodentraining professionelle Unterstützung gewünscht. Ich wusste nicht, wann der richtige Zeitpunkt ist, wieder ins Training einzusteigen.“ Zwar habe sie mit ihrer Hebamme sehr viel Glück gehabt, da diese schon vor ihr Leistungssportlerinnen betreut hatte, trotzdem hätte jemand mit Erfahrung an ihrer Seite Zweifel und Ängste nehmen können. „Im Nachhinein hätte ich mir wohl noch etwas mehr Zeit geben müssen.“ Cindy Roleder teilt sich mit ihrem Mann die Kinderbetreuung. Manchmal nimmt sie ihre Tochter auch mit zum Training. „Kind und Karriere erfordern viel Organisation, aber mein Mann und ich sind ein gutes Team.“ Ein Problem sind für sie die Trainingslager. „Ich möchte meine Tochter nicht länger als eine Nacht alleinlassen. Da ist ein Trainingslager über mehrere Wochen auf einem anderen Kontinent nicht zu organisieren.“ Bei Sportlerinnen aus Italien oder den USA habe sie schon erlebt, dass sie ihre Kinder einfach mitnehmen. Das ist für die deutschen Athletinnen aber nicht möglich. „Ich verstehe auch nicht, warum Kinder nicht mit ins olympische Dorf dürfen.“

„Es gibt kaum Studien zu zyklusbasiertem Training oder zu erhöhter Verletzungsanfälligkeit während der Menstruation.“

Yvonne van Vlerken ist Weltmeisterin auf der Duathlon-Langdistanz (2006), mehrfache Ironman-Siegerin (2009–2017) und zweifache ETU-Europameisterin auf der Triathlon-Langdistanz (2017, 2019). Foto: James Mitchell

Yvonne van Vlerken ist Weltmeisterin auf der Duathlon-Langdistanz (2006), mehrfache Ironman-Siegerin (2009–2017) und zweifache ETU-Europameisterin auf der Triathlon-Langdistanz (2017, 2019). Foto: James Mitchell

Tabuthemen ansprechen

Nicht nur beim Thema Schwangerschaft und Muttersein tappen die Sportverbände im Dunkeln, auch die Verbindung von Leistungssport und Zyklus findet kaum Beachtung. Yvonne van Vlerken ist Expertin auf diesem Gebiet und setzt sich dafür ein, dass Athlet:innen, aber auch Trainer:innen und Funktionär:innen aufgeklärt werden. Die 43-Jährige ist Weltmeisterin auf der Duathlon-Langdistanz und mehrfache Ironman-Siegerin. Im Jahr 2019 hat sie ihren ersten Artikel über Tabuthemen im Triathlon veröffentlicht und sich in den letzten Jahren intensiv mit Menstruation, Wechseljahren und zyklusbasiertem Training auseinandergesetzt. „Ich war so frustriert und verunsichert, weil ich meinen eigenen Körper nicht kannte, und auch Fachärzte mir keine befriedigende Erklärung geben konnten.“ Sie erlebe immer wieder, dass viele Sportlerinnen keinen Zyklus haben und das als normal hinnehmen. „Gerade im Ausdauersport ist das ein Problem. 30 Prozent der Frauen sind davon betroffen und niemand unternimmt etwas dagegen.“ Yvonne van Vlerken ändert das. Sie betreut selbst Athletinnen und erarbeitet für sie Trainingspläne, die am Zyklus der jeweiligen Sportlerin orientiert sind. Für die Athletinnen sei das Training so viel angenehmer, und auch die Erfolge sprechen für sich. Immer mehr junge Mädchen würden bei ihr Rat suchen. Sie versucht die Themen auch bei den Funktionär:innen anzusprechen und gibt Workshops. „Ich wünsche mir, dass die Verbände sich intensiv mit den Themen auseinandersetzen und für junge Sportlerinnen eine Plattform bilden, wo sie sich informieren können und aufgeklärt werden. Alle Beteiligten müssen sich mit dem weiblichen Zyklus auskennen, besonders die Athletinnen und ihre Trainer:innen. Das kann zum Beispiel durch gemeinsame Workshops passieren, die die Verbände organisieren.“ Auch von medizinischer Seite hofft sie auf Unterstützung. „Es gibt kaum Studien zu zyklusbasiertem Training oder zu erhöhter Verletzungsanfälligkeit während der Menstruation. Die Verbände könnten auch da aktiv vorangehen und mit Sportärzt:innen und Gynäkolog:innen zusammenarbeiten.“ Die Pionierin hofft, dass sie mit ihren eigenen Erfahrungen und ihrem Wissen andere Frauen unterstützen kann, damit sie sich in ihrem Körper wohlfühlen und dessen Signale verstehen, anstatt sie zu unterdrücken.

Alibi-Entscheidungen 

Noch immer gibt es in einigen Sportarten Disziplinen, in denen Frauen nicht antreten dürfen. So etwa beim Bobsport. Sportlerinnen warten weiter darauf, im Viererbob an der Startlinie zu stehen. Die International Bobsleigh and Skeleton Federation (IBSF) versuchte das Viererbobverbot mit einer anderen Disziplin zu kaschieren: So war bei den Olympischen Spielen 2022 erstmals der Wettbewerb Monobob im Programm. Eine Lösung, die aus Sicht des Verbandes mehr Gleichberechtigung schaffen soll, was bei den Athletinnen aber so nicht wahrgenommen wird. „Uns wurde erzählt, dass ein Viererbob der Frauen für viele Nationen nicht möglich ist, weil die Kosten zu hoch sind“, sagt Deborah Levi. Sie wurde in Peking mit ihrer Pilotin Laura Nolte Olympiasiegerin im Zweierbob. „Ein Monobob ist aber in etwa genauso teuer wie ein Viererbob. Dazu kommt noch, dass wir Anschieberinnen nichts davon haben, weil nur die Pilotin den Bob fährt und wir zuschauen.“ Aus ihrer Sicht sei die Entscheidung des Weltverbandes zwar ein Schritt in die richtige Richtung, trotzdem würden Frauen in den Disziplinen weiter benachteiligt.

„Niemand interessierte sich in den 1970er-Jahren für Frauenfußball, dabei wollten wir einfach nur spielen. Im Verein wurden wir ausgelacht, aber ich wollte das nicht hinnehmen und habe dann versucht, selbst etwas auf die Beine zu stellen.“

Hannelore Ratzeburg, ist deutsche Fußballfunktionärin. Als erste Frau wurde sie 1995 in den DFB-Vorstand gewählt. Von 2007 bis 2022 war sie Vizepräsidentin für Frauen- und Mädchenfußball im Deutschen Fußball-Bund. Ihr wurde die Ehrenmitgliedschaft des DFB verliehen. Foto: DFB

Hannelore Ratzeburg, ist deutsche Fußballfunktionärin. Als erste Frau wurde sie 1995 in den DFB-Vorstand gewählt. Von 2007 bis 2022 war sie Vizepräsidentin für Frauen- und Mädchenfußball im Deutschen Fußball-Bund. Ihr wurde die Ehrenmitgliedschaft des DFB verliehen.
Foto: DFB

Ein Leben für den Frauenfußball

Hannelore Ratzeburg hat über 50 Jahre gegen die Benachteiligung von Frauen im Fußball gekämpft. Seit 1977 war sie im Deutschen Fußball-Bund Referentin für Frauenfußball und wurde später Mitglied im DFB-Vorstand, der FIFA- und UEFA-Kommission für Frauenfußball und Vizepräsidentin für Frauen- und Mädchenfußball im DFB. Sie gilt als „die Mutter des deutschen Frauenfußballs“. Obwohl sie in den klassischen Rollenklischees der Nachkriegszeit aufgewachsen ist, wollte Hannelore Ratzeburg nicht akzeptieren, dass Frauen das Fußballspielen verboten war. „Niemand interessierte sich in den 1970er-Jahren für Frauenfußball, dabei wollten wir einfach nur spielen. Im Verein wurden wir ausgelacht, aber ich wollte das nicht hinnehmen und habe dann versucht, selbst etwas auf die Beine zu stellen.“ Am Anfang sei sie überall die einzige gewesen, die sich für die Frauen einsetzte, und musste sich in Sitzungen des DFB immer wieder Gehör verschaffen. „Manchmal habe ich mich wirklich gefragt, warum ich das eigentlich mache. Besonders, wenn mich die Herren im Präsidium wieder nicht ernst genommen haben. Ich musste immer sehr gut vorbereitet sein, wenn ich in Sitzungen gegangen bin. Wie oft habe ich gehört ‚Muss das denn sein?‘“ Ihre Bemühungen haben Früchte getragen. Hannelore Ratzeburg und ihr Team haben Ligen, Pokalwettbewerbe, Talentförderung und Nationalmannschaften für Frauen etabliert. Besonders stolz ist sie auf das Leadership-Programm, welches seit 2016 angeboten wird und bei dem sich Frauen aus den einzelnen Landesverbänden gegenseitig unterstützen. „Es hat mich beeindruckt, wie viele tolle Frauen daran teilgenommen haben. Ich kann jeder nur raten, das einfach mal auszuprobieren und sich Unterstützer:innen zu suchen. Man darf nicht glauben, dass man allein ist“, sagt die 71-Jährige. Auch wenn sie ihre Ämter weitestgehend niedergelegt hat, gibt sie ihre Erfahrungen weiter. 

Auch Cindy Roleder hofft, dass sie ihre Leidenschaft für Bewegung an ihre Tochter weitergeben kann. Die Geburt habe ihr Leben zwar grundlegend verändert, doch ihre sportlichen Ziele verfolgt sie weiter. „Meine Tochter ist eine Bereicherung und hat mir ein ganz neues Lebensgefühl gegeben.“ Sie wünscht sich, dass die Verbände stärker auf Mütter eingehen: „Kinder stören nicht. Ganz im Gegenteil. Meine Tochter hilft mir, nicht nur an Sport zu denken. Ich grüble viel weniger.“ In der nächsten Saison will sie nach ihrer Babypause wieder angreifen. —

Foto: Cindy Roleder (mitte) mit Abigail Adjei (links) und Johanna Paul (rechts) bei den Deutschen Leichtathletik-Hallenmeisterschaften im Februar 2022 in Leipzig. (IMAGO / Beautiful Sports)

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