Wie Wikipedia Frauen unsichtbar macht 

… und was dagegen hilft

Das größte Online-Lexikon Wikipedia hat ein Frauenproblem. Es fehlt an weiblichen Autoren. Denn von denen gibt es laut Studie aktuell nur neun Prozent auf Wikipedia. Doch eine ­Unterrepräsentation des weiblichen Geschlechts hat weitreichende Folgen. 

Text: Jules Hitzemann

Der User Lutheraner ist Spitzenreiter darin, Löschanträge zu Artikeln zu stellen. Die zuweilen beliebig wirkende Löschung von Artikeln ist ein Problem, das die Online-Enzyklopädie bislang kaum in den Griff bekommt. Und das regelmäßige Löschen von Artikeln ist nicht nur ärgerlich für die Autorinnen und Autoren, es trifft auch immer häufiger Beiträge von und über Frauen. 

Prof. Dr. Bärbel Miemietz ist eine der Frauen, die aktiv auf Wikipedia veröffentlichen. Seit drei Jahren ist sie Teil des Regionalbüros in Hannover von Wikipedia Deutschland. Ihrer Meinung nach ist es gerade jetzt umso wichtiger, dass Frauen zur Mitarbeit an der Online-Enzyklopädie motiviert werden, erklärt sie uns im Interview.

Vielfalt ist im Regelwerk der Wikipedia nicht mitgedacht 

Grundsätzlich darf jede Person für die Online-Enzyklopädie Texte verfassen, ganz ohne zentral gesteuerte Autorität und Kontrolle. Und das wird vor allem dann zum Problem, wenn es um die Abbildung von Vielfalt in unserer Gesellschaft geht. 

Wie User Lutheraner kann nämlich jede Person auf Wikipedia auch Löschanträge von Artikeln stellen. Das Totschlagargument dabei ist das Nichteinhalten der bestehenden Relevanzkriterien. Zwar sind die Relevanzkriterien im Regelwerk von Wikipedia erfasst, werden im Einzelfall aber immer wieder neu geprüft. Löschen können dann diejenigen, die als Administratoren oder Administratorinnen gelistet sind. „Menschen, die beispielsweise sexistisch oder diskriminierend motiviert sind, werden immer in der Lage sein, sich so zu äußern und zu agieren, dass man ihnen keinen Rassismus, Sexismus oder eine andere Diskriminierung vorwerfen kann. Sie werden sich auf die Relevanzkriterien von Wikipedia berufen, und die sind einfach unvollständig und sehr dehnbar“, erklärt Bärbel Miemietz. Die Löschung erfolgt einzig und allein nach Ermessen des Administrators oder der Administratorin. Und auch hier sind Frauen unterrepräsentiert. Schätzungsweise sind aktuell weniger als zehn Prozent der Positionen in der Administration mit Frauen besetzt. 

Auch Unternehmerin und Influencerin Madeleine Alizadeh – besser bekannt unter dem Namen DariaDaria – musste am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, von Wikipedia zu verschwinden. Mehr als 330.000 Follower:innen auf Instagram, ein eigenes Fairtrade-Modelabel namens dariadeh, Buchautorin des Spiegelbestsellers „Starkes weiches Herz: Wie Mut und Liebe unsere Welt verändern können“ und zahlreiche TV-Auftritte rechtfertigen nicht den Artikel über die eigene Biografie auf Wikipedia, der im Januar 2023 gelöscht wurde. Beantragt aus Gründen der fehlenden enzyklopädischen Relevanz. Madeleine Alizadeh wirft Wikipedia mit der Löschung ihrer Biografie Sexismus vor: „Männer, die offensichtlich ein Problem damit haben, wenn eine Frau in einer Enzyklopädie steht“, so die Influencerin auf Instagram. 

Laut Bärbel Miemietz lassen sich aktuell zwei Lager auf Wikipedia beobachten: „In der Community gibt es Exklusionisten und Inklusionisten. Die Inklusionisten sagen, alles, was in der Welt vorkommt und interessant ist, wollen wir in der Wikipedia abgedeckt haben. Und dann gibt es die Exklusionisten, die sich an das, was in ihren Augen die Wikipedia-Relevanzkriterien erfüllt, halten und alles darüber hinaus versuchen sie zu verhindern.“ 

„Durch die Wikipedia-Relevanzkriterien werden ­
Per­sonen ­benachteiligt, die eben keine genormten Karrierewege vorweisen können. In der Praxis heißt das, wer westlich und männlich ist und anerkannte beruf­liche Karrierestufen hat, wird vom ­System bevorzugt.“
Zitat von Bärbel Miemietz

Verhindert werden so auch vielfach Texte und Biografien von Frauen. Gerade mal 17 Prozent der auf Wikipedia aktuell veröffentlichten Beiträge handeln von weiblichen Persönlichkeiten. Aber auch die Darstellung von Frauen auf Wikipedia weist sexistische Tendenzen auf. So enthalten Biografien über Frauen mehr Daten über das Geschlecht oder den Familienstand der Frau als die Biografien über Männer. „Durch die Wikipedia-Relevanzkriterien werden Personen benachteiligt, die eben keine genormten Karrierewege vorweisen können. In der Praxis heißt das, wer westlich und männlich ist und anerkannte berufliche Karrierestufen hat, wird vom System bevorzugt. Diversere Biografien haben es schwer, auf Wikipedia nach deren Gütekriterien als relevant erachtet zu werden“, so Bärbel Miemietz. Die Folge: Frauen werden einmal mehr unsichtbar gemacht. Wenn Biografien zu weiblichen Politikern, Aktivist:innen, Sportler:innen und Wissenschaftler:innen fehlen, führt das unweigerlich dazu, dass der Eindruck entstehe, es gäbe in diesem Bereich keine Frauen – geschweige denn erfolgreiche … 

Spendengelder für eine Welt von Männern für Männer 

Wikipedia wird ausschließlich über Spenden finanziert. Spendengelder für eine kollaborative Gemeinschaft, an der jede Person mitarbeiten kann, die will. Aktiv werden aber vorwiegend Männer auf Wikipedia. Gerade mal neun Prozent der Beteiligten sind weiblich (< 1 Prozent sind nichtbinär). Und die Strukturen der Online-Enzyklopädie sorgen dafür, dass das so bleibt. Die Gründer Jimmy Wales und Larry Sanger ließen bei der Gründung 2001 nämlich völlig außer Acht, dass Frauen, die berufstätig und weitestgehend selbstverantwortlich für die Carearbeit sind, weniger Zeit für die Ausübung einer ehrenamtlichen Tätigkeit aufbringen können als Männer. Folglich finden mehrheitlich Männer Zeit für die aktive Beteiligung an Wikipedia und können so ihr männlich zentriertes Weltbild auf einer Plattform aufrechterhalten und reproduzieren, die auf Platz sechs der meistbesuchten Internetseiten Deutschlands steht.

Geringes Selbstvertrauen der Frauen lässt Gendergap auf Wikipedia weiter wachsen 

Nicht selten berichten Autorinnen auch, dass sie in Diskussionen nicht ernst genommen oder bewusst benachteiligt werden. Zudem werden ihre Artikel öfter wegen Quellen- oder Zitierfehlern von anderen Mitgliedern gemeldet. Wer sich der anschließenden Diskussion mit der mehrheitlich männlichen Community nicht stellt, läuft Gefahr, dass der eigene Artikel wieder gelöscht wird. Dafür fehlt es vielen Frauen aber neben zeitlichen Kapazitäten auch an Selbstvertrauen, sich der dominierenden Männerriege zu stellen. „Es ist nicht nur so, dass wir Schwierigkeiten haben, Frauen grundsätzlich zu gewinnen. Ganz wenig Frauen bleiben langfristig dabei“, auch weil der Ton auf Wikipedia bisweilen ziemlich rau werden kann, vermutet Miemietz. Im Schnitt bringt gerade mal eine Frau pro Jahr den Mut auf, längerfristig für Wikipedia zu arbeiten.

Frauenseminare zur Mitarbeit an Wikipedia sollen das Online-Lexikon weiblicher machen 

Die Verantwortlichen bemühen sich um mehr Frauen auf Wikipedia. Während der Pandemie wird zum ersten Mal das Frauenseminar zur Mitarbeit an Wikipedia initiiert. Vier weitere Termine sind bis heute zustande gekommen, daneben existieren zudem Mentoringprogramme sowie Einführungsveranstaltungen an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. Ziel ist es, Teilnehmerinnen die Mitarbeit an Wikipedia nahezubringen, das Regelwerk zu erklären und zu zeigen, wie Artikel editiert werden. 

Die Resonanz unter Frauen ist erst mal hoch. Aber es gibt laut Mitwirkenden auch Frauen, die das Seminar nur besuchen, um einen Artikel über sich selbst auf Wikipedia zu veröffentlichen, um die eigene Reputation zu fördern. Doch auf Wikipedia ist kein Platz für Eitelkeiten, mahnt die ehemalige Gleichstellungsbeauftragte Bärbel Miemietz. „Das ist so ärgerlich, weil man weiß, diese Frauen könnten so viel auf Wikipedia beitragen.“

Bärbel Miemietz hat sich selbst mittlerweile eine Nische auf Wikipedia gesucht und veröffentlicht hauptsächlich Fotografien von Frauen, um diese sichtbar zu machen. „Das ist ein wichtiger Beitrag, um nicht nur Männer abzubilden und Vielfalt einmal mehr zu repräsentieren.“ 

Auf die Frage, warum sie im Gegensatz zu vielen ihrer Kolleginnen immer noch aktiv bei Wikipedia ist, entgegnet Bärbel Miemietz: „Es ist immer noch besser, als wenn man gar nichts macht. Es fühlt sich einfach richtig an, weiterzumachen. Es gibt so unheimlich viele interessante Themen und so wahnsinnig viele verschiedene Möglichkeiten mit­zuarbeiten.“ —

Foto: Madeleine Alizadeh, bekannt als dariadaria, startete 2010 ihren Blog dariadaria.com. Sie wandte sich 2013 von der Fast-Fashion-Welt ab und widmet sich seitdem nachhaltigen Themen. Alizadeh produziert den Podcast „A Mindful Mess”, betreibt das Fair Fashion Label Dariadéh und engagiert sich als Umweltaktivistin. Bei Instagram folgen ihr über 337.000 Menschen. (Foto: DariaDariaFacebook)

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