Das Geld ist nicht weg, es ist nur woanders
Alleinerziehende und ihr Armutsrisiko
Text: Andrea Hansen
„Arm geschieden“, „Trotz Arbeit abgehängt“, „Kinder sind ein Armutsrisiko“ – nur drei Überschriften, willkürlich herausgepickt aus einer Google-Suche zum Thema Finanzlage von Alleinerziehenden.
Zwei Dinge fallen auf: die Problemfixierung und der defizitäre Blickwinkel. Wer kein Geld hat, ist auch niemand, dieses Gefühl bleibt hängen. So ist die häufigste Antwort auf die Frage an Alleinerziehende, was an ihrer Situation besonders belastend ist: „Dass ich meinen Kindern nichts bieten kann.“ Untrennbar sind Geld und Glück heutzutage miteinander verknüpft.
Ich wurde als viertes Kind in eine Familie geboren, die auch nicht viel Geld hatte. Meine Geschwister waren gerade mit der Schule fertig, meine Mutter wollte endlich wieder arbeiten gehen, da wurde sie mit mir schwanger. Wir hatten nicht viel Geld, „Das können wir uns nicht leisten“ war kein seltener Satz in unserem Haushalt. Aber arm habe ich mich nie gefühlt und auch nie den Eindruck gehabt, dass meine Eltern mir nichts bieten konnten.
Was hat sich also verändert seit meiner Kindheit in den Siebzigern in der alten Bundesrepublik? So einiges, mit dem an anderer Stelle die Entwicklung nicht Schritt gehalten hat. Es gibt deutlich mehr Trennungen und auch mehr Kinder, die gar nicht in Ehen geboren werden. Gesellschaft und Steuerrecht im dritten Jahrtausend meinen mit „Familie“ aber immer noch verheiratete Erwachsene mit Kind(ern).
Zementiertes Rollenverständnis der fünfziger Jahre
2008 wurde das Unterhaltsrecht zwar reformiert, um Kinder aus erster und zweiter Ehe gleichzustellen. Das hatte aber vor allem zur Folge, dass geschiedene Alleinverdiener sich eine zweite Familie leisten konnten, während Alleinerziehende mit noch mehr Nachteilen da standen, wenn sie das Scheitern der Beziehung nicht zu Beginn mitgedacht hatten: Der Unterhaltsanspruch für Ex-Partner:innen wurde reduziert bzw. abgeschafft. Leben Kinder im Wechselmodell mal bei Mama und mal bei Papa, erledigt sich der Kindesunterhalt ebenfalls.
Steuerlich ist bis heute das Rollenverständnis der fünfziger Jahre zementiert. Das Ehegattensplitting verleitet dazu, dass eine:r (meist die Frau) weniger oder gar nicht arbeitet. Neun von zehn Kindern, die allein erzogen werden, leben bei ihrer Mutter, nur eines beim Vater. Und: Kinderlose Verheiratete gelten steuerlich als Familie, Alleinerziehende mit Kindern nicht. Widmet eine Frau sich in der Beziehung überwiegend der Familie, steht sie nach der Trennung meist für den Rest ihres Lebens finanziell schlechter dar, denn auch ihre Rentenansprüche fallen niedriger aus.
Paula Huhle aus Dresden lebt in einer Konstellation, die heute völlig normal, für die Behörden aber immer noch eine Herausforderung ist. Aus ihrer Ehe hat sie zwei Kinder, die sie gemeinsam mit dem Vater im Wechselmodell erzieht. Aus ihrer aktuellen Beziehung hat sie ein weiteres Kind. Sie ist also de jure beim dritten Kind nicht alleinerziehend. Da der Vater aber in Leipzig lebt, ist sie es de facto eben doch. Seit 2018 lebt sie von ihrer Selbstständigkeit. Doch das hat nach der Trennung mit zwei Kindern nicht sofort funktioniert.
Paula findet, dass wir in Deutschland eigentlich ein gutes soziales Sicherheitsnetz haben. Eigentlich – nämlich dann, wenn die Lebenslage so simpel ist, wie man sich das Ganze früher vorgestellt hat: ein fester Job und keine Patchwork-Situation. Paula als selbstständige Grafikerin und Illustratorin hat aber drei Kinder von zwei Vätern – ein anderes Erwerbsmodell als die Festanstellung trifft also gepaart mit einer komplexeren Familienkonstellation auf verschiedene Versorgungsämter, die mit ihren Vorschriften aus einer anderen Zeit auf diese Sachlage blicken.
„Es gibt nette Menschen auf Ämtern, die wirklich versuchen zu helfen“, erzählt Paula, „bei der Wohngeldstelle z. B. bin ich aber auf Vorurteile gestoßen. Die Sachbearbeiterin dort hat mich zum Heulen gebracht.“ Sie warf Paula vor, sie sei viel zu spät gekommen, trieb sie in die Enge mit Fragen, die sie nichts angingen: „Ich hätte mir in dieser Situation gewünscht, dass sie mir einfach hilft, den Antrag korrekt auszufüllen und mich an andere Stellen verweist, die mir auch helfen könnten, anstatt mich zu verunsichern und zu verletzen.“
Fehlende Unterstützung durch den Staat
Nach der Trennung war Paula emotional erschüttert, und die Besuche bei den Ämtern verbesserten ihre Situation nicht. Das Jobcenter und die Wohngeldstelle wollten den Unterhaltstitel sehen, das Jugendamt erklärte sich wegen des Wechselmodells für nicht zuständig. Dabei haben die Sozialleistungsträger eigentlich umfassende Aufklärungs-, Auskunfts- und Beratungspflichten. Das geschriebene Recht ist in einem so komplexen Leistungssystem wie dem unseren allein nicht ausreichend – so die Theorie.
Obwohl das Schuldprinzip aus dem westdeutschen Scheidungsrecht 1977 getilgt wurde, hängt die Schuldfrage weiterhin über vielen Menschen, die finanzielle Hilfen bekommen. Von ihren Schwiegereltern wurde Paula als Wurzel des Problems angesehen – sie reden nicht mehr mit ihr. Und wer Unterstützung vom Staat braucht, kann oft nicht auf Unterstützung durch den Staat zählen, erinnert sich Paula: „Es gab einige Male Momente, da dachte ich, wenn sie mir das gleich gesagt hätten, hätten wir alle viel Zeit gespart. Ich bin so herumgeschickt worden, dass ich mich gefragt habe, ob ich bei Asterix und Obelix bin.“
So wie die Gallier an der römischen, verzweifelt Paula Huhle bisweilen an der deutschen Bürokratie. Ihr Ziel war nie, sich in diesem System einzurichten. Heute ist sie mit ihrer Selbstständigkeit erfolgreich, erinnert sich aber noch gut an die Zeit, als das anders gewesen ist: „Wenn ich mir anschaue, wie viel Zeit du damit zubringen kannst, alle Zusammenhänge zu durchschauen, kann ich nachvollziehen, dass manche Menschen daraus eine Berufung machen, auch wenn ich es nicht gut finde und selbst nicht so machen würde.“
Einige wenige wollen nicht mehr raus, der Rest hat Angst davor, nicht mehr herauszukommen, wenn er einmal hineingerät. Und da wären wir bei einer der großen Veränderungen seit den Siebzigern: Damals gab es das heutige Gefühl des drohenden Absturzes noch nicht, dass es nur eine Richtung in der Gesellschaft gibt, wenn es mal nicht rund läuft: nach unten. Das Sozialsystem war ein Auffangnetz, es federte. Es war kein Auffangbecken, in dem man ohne Leiter zum Rausklettern landet. Meine Eltern glaubten noch an das Aufstiegsversprechen durch Bildung, alle vier landeten wir in besseren Berufen als Mutter und Vater. Mein Bruder und ich wurden die ersten Akademiker:innen der Familie. Heute herrscht in Familien mit wenig Geld hingegen oft Perspektivlosigkeit.
Direkt nach der Trennung fühlte sich Paula mit ihren zwei Kindern verlassen und verloren. 40 Stunden arbeiten und das Geld reicht trotzdem nicht, ein mieses Gefühl: „Wenn du nicht weißt, wie du nächste Woche Brot kaufen oder nächsten Monat die Miete zahlen sollst, lähmt das. Durch die Selbstständigkeit habe ich von zu Hause gearbeitet und wenig Leute, mit denen ich das hätte reflektieren können, getroffen. Aus diesen Tiefs herauszukommen, ist unglaublich schwer.“
Ohnmacht, Isolation, Ausweglosigkeit – der Sozialstaat fühlt sich oft nicht mehr wie ein Sicherheitsnetz an, sondern wie eine Drohkulisse, so viel ist davon die Rede, dass „die Schere immer weiter auseinander geht“. Dennoch wird das System in manchen Medien und der Politik (wie jüngst von Friedrich Merz mit dem Begriff „Sozialtourismus“) immer noch als komfortable Hängematte dargestellt.
Während Armut in meiner Kindheit noch etwas gewesen ist, das es nur woanders gab, ist sie hierzulande heute ständig Thema. Es gibt mehrere Arten, auf die man in einer reichen Industrienation arm sein kann: Relativ arm ist jede:r, die oder der weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens hat. Gefühlte Armut betrifft diejenigen, die sich durch gesellschaftliche Ausgrenzung oder Diskriminierung als „arm“ betrachten oder Angst davor haben, es zu werden. Mangelarmut liegt vor, wenn mindestens vier von neun Kriterien erfüllt sind, dazu gehört, nicht jeden zweiten Tag Fleisch essen oder keine Woche pro Jahr verreisen zu können.
Lichtblicke zur gesellschaftlichen Teilhabe
Wir haben das Wissen über das wachsende Problem, scheitern bislang aber daran, es erfolgreich zu bekämpfen. Und trotzdem gibt es Lichtblicke. Für Paula war das damals ein Brief vom Arbeitsamt mit der Einladung zur Alleinerziehenden-Messe. Dort waren alle Ämter mit kompetenten Menschen vertreten, die auch helfen wollten. Außerdem gab es viele weitere Angebote, die sie noch nicht kannte, wie Coworking-Spaces für Eltern oder die „Kulturloge“, einen Verein, der kostenlos Karten für Veranstaltungen organisiert.
Gegründet wurde die erste Kulturloge 2010 in Marburg, der Dresdner Ableger ist ebenfalls schon zehn Jahre alt. Deren Ziel ist es, Menschen mit geringem Einkommen durch die Vermittlung gespendeter Eintrittskarten Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu bieten. Die Kulturlogen laden ihre Gäste diskret telefonisch ein. Die Karten werden an der Abendkasse auf den Namen der Kulturgäste hinterlegt. Das Ganze ist bedingungslos: Niemand muss als Bittsteller:in auftreten, Einkünfte offenlegen oder Schlange stehen.
Behutsam, würdevoll und nachhaltig soll das Ganze ablaufen, diesen drei Prinzipien muss sich jede neue Kulturloge verpflichten. Das ist Gründerin Hilde Rektorschek wichtig. Als sie Rentnerin geworden war, hatte sie sich ehrenamtlich bei der Tafel engagiert. Die dort stattfindende Kontrolle fand sie entwürdigend – für beide Seiten. Kontrollieren oder Sanktionen aussprechen wollte sie auf keinen Fall. Ihre erste Vermittlung von Karten war trotzdem eine Enttäuschung. Doch Hilde Rektorschek be- bzw. verurteilte nicht, sie fragte nach: „Ein Mann wollte seine Frau mit den zwei Karten überraschen. Sie war zu dem Zeitpunkt hochschwanger und hat ausgerechnet an dem Abend das Baby bekommen.“ Dass er da nicht daran gedacht hat, beim Veranstalter anzurufen, war für sie gut nachvollziehbar.
Nicht gleich misstrauisch zu werden oder zu denken, dass Menschen mit wenig Geld grundsätzlich unzuverlässig sind oder strenge Regeln brauchen, ist Hilde Rektorschek wichtig, für sie geht es um Würde und Respekt. Letzterer vervielfältige sich, wenn Menschen ihn erfahren, sagt sie. Einmal hätte sie Karten für ein Konzert vermittelt, da hätten die Kulturgäste hinterher berichtet, dass die Musiker:innen wirklich nicht sonderlich gut gewesen seien: „Aber wir sind eingeladen worden, dann geht man doch nicht vorher!“ Und so waren die Kulturlogen-Gäste am Ende die einzigen, die sitzen geblieben sind.
Oder der Junge, der Karten für ein Theaterstück bekommen sollte und dessen Mutter dann traurig sagte, ausgerechnet an dem Tag habe er Geburtstag, man wolle ein bisschen feiern: „Dem haben wir kurzerhand 15 Karten vermittelt und er konnte endlich mal Freunde einladen. Ich bin persönlich hin und habe ihm noch ein Buch als Geschenk gebracht. Der Junge sei so stolz gewesen, sie haben ihn im Foyer sofort erkannt, ohne ihm vorgestellt worden zu sein, erzählt die Kulturlogen-Gründerin immer noch gerührt.
Lösungsorientierter denken und Menschen unterstützen
Auch Paula Huhle kennt diesen Effekt: „Die Kulturloge war eine echte Entdeckung. Ich bekam wieder Luft im Kopf – sonst waren da ja immer nur Sorgen. Einmal bekam ich zwei Karten für Robbie Williams. Ich konnte jemanden mitnehmen, meine Freundin einladen. Diese Leichtigkeit hatte mir so gefehlt und mich daran erinnert, dass es noch etwas anderes gibt. Ich bekam wieder neue Ideen. So ein freier Abend hat eine unglaubliche Kraft. Das hätte ich nicht gedacht. Genauso wenig wie ich gedacht hatte, das wenig Geld zu haben, so viel Kraft kostet und so viel Macht über einen hat.“
In einer Gesellschaft, in der alles Geld kostet und Leistung untrennbar mit Verdienst verknüpft ist, führt es in die Einsamkeit, kein Geld zu haben, weiß Paula: „Wenn ich eine Einladung zum Grillen bekam, dachte ich sofort daran, dass ich irgendwas mitbringen muss, wenn ich einlade, muss ich meinerseits etwas zu essen anbieten. Am meisten belastet hat mich aber das Gefühl, meinen Kindern nichts bieten zu können. Wenn du Schnitten zum Stadtfest mitnimmst, auf dem es an jeder Ecke etwas zu kaufen gibt, musst du ständig ‚Nein‘ sagen.“ Da bleibt man halt lieber weg – vom Grillen und vom Stadtfest.
Paula sieht in dieser Thematik aber nicht nur ein persönliches, sondern auch ein politisches Problem: Kinder sollten weniger durch die Probleme der Erwachsenen beschwert werden: „Ich finde, man muss lösungsorientierter denken. Wie kann man Menschen unterstützen, mental stark zu sein, ihnen die Möglichkeit geben, sich würdevoll zu fühlen?“ Alle Menschen müssten ermutigt werden, für sich selbst zu sorgen. Das fange schon bei den Kleinen an, z. B. wie Familie in Fernsehserien dargestellt würde: „Die Frau ist immer zu Hause. Ich bin ja Illustratorin, da beschäftige ich mich auch damit, wie es in Kinderbüchern dargestellt wird. Das ist mir oft zu eindimensional.“
Das übermächtige Narrativ der heilen Familie hindert Staat und Gesellschaft daran, sinnvoll zu unterstützen, wo dieses Ideal an der Wirklichkeit zerbricht. Dass in ihrem Dresdner Umfeld immer wieder so getan wird, dass es in der DDR besser gelaufen sei, regt sie auf: „Da waren die Frauen arbeiten und dann trotzdem für den kompletten Haushalt und die Erziehung zuständig. Also dass das gleichberechtigter war, halte ich echt für einen Mythos. Wie oft habe ich schon misogyne Idioten sagen hören, bei ihnen sei alles so toll, weil sie ja noch aus der DDR stammen.“
Aber ganz gleich, ob es in der DDR oder der BRD besser gelaufen ist – es läuft im vereinten Deutschland heute nicht gut. Obwohl Frauen nach der Trennung Armut droht, hat sich an der Aufgabenteilung in der Ehe wenig geändert. Ehegattensplitting, Familienkrankenversicherung und Minijobs sorgen dafür, dass Frauen nach wie vor den Großteil der Care-Arbeit übernehmen. Nach einer Trennung lässt der Gesetzgeber sie dann aber im Regen stehen, denn die Reform des Unterhaltsrechtes von 2008 ermöglicht, dass Männer sich heute öfter zweite Familien leisten können. Doch dass Frauen nach wie vor oft abhängig vom Ehemann sind, weil sie zugunsten von Kindern und Steuerklasse III ihre eigene Karriere auf Eis legen, wird gesamtgesellschaftlich ignoriert und mitfinanziert. 2017 gab es eine Reform von Unterhaltsvorschuss und Kinderzuschlag sowie einen steuerlichen Entlastungsbetrag, der aber Menschen mit geringem Einkommen wenig hilft. Die aktuelle Bundesregierung hat zum Thema Vorhaben im Koalitionsvertrag stehen. Bislang warten die aber noch auf Umsetzung. —
Hinweis: Dieser Text erschien im femMit-Magazin Ausgabe 5.
Foto: AdobeStock/nicoletaionescu
Hilde Rektorschek
2 Jahren agoDieser Artikel bringt die gesamte Schieflage in Deutschland auf den Tisch. Er zeigt auf, wie insbesondere Frauen mit Kindern benachteiligt werden. Seit 15 Jahren kämpfe ich gegen Armut und Ausgrenzung und kann bestätigen, dass die Schilderung von Paula Huhle kein Einzelfall darstellt. Meine Grundsätze der Kulturlogen „behutsam, würdevoll und nachhaltig“ habe ich vor diesen Hintergründen mit „Bedacht“ so formuliert. Ich hoffe, dass diese Lichtblicke der Kulturlogen viele Frauen mit Kindern und Seniorinnen erreichen. Und DANKE für den ausgezeichneten Artikel.
Hilde Rektorschek
Präsidentin Bundesverband Kulturloge http://www.kulturloge.de