Deutschland, wir müssen reden!

Hast du wirklich ­Fachkräftemangel oder liegt dein Problem woanders?

Von Sümeyye Algan

Laut IAB-Stellenerhebung sind in Deutschland branchenübergreifend fast 2 Millionen Arbeitsplätze nicht besetzt. Da könnte man meinen, die Jobsuche müsste doch reibungslos funktionieren. Die Realität spricht aber eine andere Sprache. Denn während ich diese Zeilen schreibe, habe ich parallel die 96. Bewerbung verschickt und vor wenigen Minuten erneut eine Absage erhalten. Dieses Mal nach einem für mich gut verlaufenden Bewerbungsgespräch. Auf Nachfrage, was denn der Grund für die Absage sei, erhalte ich die Antwort, dass es oft „Kleinigkeiten“ seien, die ausschlaggebend sind, und ein anderer Bewerber oder eine andere Bewerberin besser zu dem gesuchten Profil gepasst habe. Weitere Standardabsagen – ohne vorherige Einladung zu einem Gespräch – finden sich zuhauf in meinem Posteingang. Gestern ganze sieben. 

Irgendeine Stimme in mir möchte sich damit nicht zufriedengeben. Deshalb hake ich nach. Ich will verstehen, wo das Problem liegt und an welchen Stellschrauben viele andere Jobsuchende und ich drehen können, um endlich (wieder) aktiv am Arbeitsmarkt mitwirken zu können. 

Also recherchiere ich Studien, stöbere in Interviews, scanne täglich LinkedIn-Beiträge von Recruiterinnen und Recruitern sowie alle mir bekannten Jobbörsen. Was mir direkt auffällt: Im Recruiting ist man sich größtenteils einig, dass Unternehmen langfristig umdenken müssen, wenn es um Bewerbungsprozesse geht. Florian Grösch, Senior Expert für Recruitinglösungen von der Personalmarketingagentur Raven51 AG ist überzeugt: „Vor 10 oder 15 Jahren war Recruiting mit einem Fingerschnips zu erledigen – Bewerber bewirbt sich, Unternehmen wählt aus. Heute ist das anders. Bewerber:innen können Unternehmen auswählen, Unternehmen müssen sich an Kandidaten ranschmeißen, attraktiv sein, wirklich was bieten. Vor allem aber reichen die klassischen Ansprachewege und -maßnahmen oft nicht mehr aus.“ Weiter heißt es in seinem Post: „Recruiter sind in ihrem eigenen Käfig aus fehlenden Informationen, falschen Unternehmensstrukturen und mangelndem Mut gefangen. Den braucht es aber, um Veränderungen anzugehen, diese nach oben zu boxen und mitzugestalten.“

Autor Maurice Höfgen fasst dies in einem Insta-Reel zusammen: Laut der Bundesagentur für Arbeit gibt es keinen allgemeinen Fachkräftemangel. Hier sind aktuell 2,7 Millionen Menschen arbeitssuchend gemeldet, 900.000 von ihnen bereits länger als ein Jahr. Hinzu kämen etwa 800.000 Menschen, die älter als 58 Jahre seien oder sich in Weiterbildungsmaßnahmen befänden. Weitere 700.000 Menschen würden unfreiwillig in Teilzeit arbeiten. Doch das ist noch nicht die ganze Wahrheit, denn weitere 2,85 Millionen Menschen, überwiegend Frauen, hätten angegeben, dass sie wegen Kinderbetreuung oder der Pflege von Angehörigen nur in Teilzeit arbeiten könnten. Ein Drittel dieser Frauen hätte aber den Wunsch, in Vollzeit zu arbeiten.

Fassen wir zusammen: 3,5 Millionen Menschen suchen in Deutschland eine Arbeit. Eine weitere Million Menschen, die, so Höfgen, offiziell nicht in der Statistik gelistet sind, aber gerne auf Vollzeit aufstocken würden, müssten ebenfalls in der Berechnung berücksichtigt werden. Doch auch das sei noch nicht die ganze Wahrheit, denn zu dieser Zahl käme noch eine Dunkelziffer an Asylbewerber:innen sowie Geduldeten, die entweder auf ihre Arbeitserlaubnis warten oder deren Abschlüsse nicht anerkannt seien oder die noch nicht wissen, wo sie unterkommen wären. Und zuletzt ergänzt Höfgen, dass von den knapp 2 Millionen freien Arbeitsplätzen nur 20 Prozent der Stellen einen Berufsabschluss voraussetzen würden. Alle anderen Stellen seien Stellen für Ungelernte. 

Nach dieser Zusammenfassung muss ich tief durchatmen. Für Florian Grösch müsse sich das Standing von Human Resource langfristig ändern: „Die HR sitzt nicht an den Tischen, wenn es um Veränderungsprozesse in Unternehmen geht. Stattdessen muss sie Social Media bespielen, Daten analysieren und, on top, texten können.“ 

Mein Problem ist an dieser Stelle nicht ansatzweise gelöst, denn wie ich erfahre, kommen auf einen Recruiter oder eine Recruiterin in der Regel 200 Bewerbungen. Laut Grösch sind allerdings sieben bis acht Bewerbungen die richtige Zahl, um sich angemessen mit den Menschen hinter den Lebensläufen zu befassen. Der Grund hinter diesem Phänomen ist einfach: „Stellengesuche bleiben viel zu lange online, weil Unternehmen auf Jobportalen meistens einen Fixpreis über eine bestimmte Zeitdauer einkaufen. Selbst wenn die Zahl der Bewerbungen die Grenzen des Überschaubaren überschreitet, werden die Jobgesuche nicht rausgenommen“, erzählt Grösch. Ob es nicht hilfreich wäre, wenn nach zehn Bewerbungen die Stellenausschreibung offline genommen würde? Grösch: „Hierbei würde man zwar einige Tage verlieren, falls unter den ersten Bewerbern kein geeigneter Kandidat wäre, aber das steht in keinem Verhältnis zu den Kosten, die auf der anderen Seite entstehen.“ Seine Lösung: Weg vom Festpreis, hin zu variablen Angeboten, Fokus auf Performance-Marketing, Kenntnis der Zielgruppe und entsprechend das Schaffen von so vielen Touchpoints wie möglich. 

Doch wie schafft man es, in der Bewerberflut gesehen zu werden? Ist es sinnvoll, über einen Personaldienstleister zu gehen? 

Für Personaldienstleister sei der (arbeitssuchende) Mensch eine Ware, erzählt mir eine Frau, die nicht genannt werden möchte. „Je nötiger jemand einen Job hat, desto schneller bewirbt er sich“, berichtet sie weiter. Ein Unternehmen würde aber nicht den Menschen einkaufen, sondern dessen Leistung. 

Es ist ernüchternd. Ich möchte nicht wahrhaben, dass der deutsche Arbeitsmarkt den Menschen als Ware sieht, dass Einstellungsstandards einer undefinierbaren Willkür unterliegen und auch nicht, dass eine künstliche Intelligenz über mein Schicksal entscheidet. Auch kann und möchte ich nicht im Zahnrad der Bewerbungsprozesse aussortiert werden. Dafür steckte zu viel Herzblut im Studium. 

Doch es gibt auch kleine Hoffnungslichter. Der Hessische Rundfunk hat vor sechs Jahren seinen Bewerbungsprozess für das journalistische Volontariat sowie Ausbildungsinhalte und Kompetenzen angepasst und den Fokus auf Fähigkeiten, digitale Produkte erstellen zu können, statt nur auf das journalistische Können gelegt. „Seitdem schauen wir verstärkt auch auf sichtbare und nicht sichtbare Diversitätsmerkmale und andererseits bleibt die Geschäftsleitung bei der Auswahl im Hintergrund”, erzählt Jürgen Brzoska, Ausbildungsleiter für journalistische Volontierende des Hessischen Rundfunks. „Das hat den Weg für viele Menschen, die vorher kaum journalistische Erfahrungen hatten, in die Medien eröffnet. Dafür musste die Geschäftsleitung – getreu dem Motto ‚Verändere die Menschen, die auswählen, und du kriegst andere Bewerber‘ – mutig sein. Dieses Prinzip“, so Brzoska, „hat uns viele neue Perspektiven in den Hessischen Rundfunk gebracht.” 

Eine Recruiterin einer großen Bank, die nach Voransicht dieses Textes namentlich nicht mehr genannt werden möchte, erzählt mir Ähnliches: „Wenn wir Bewerbungen bekommen, die vielleicht nicht auf die ausgewählte Stelle passen, suchen wir innerhalb des Unternehmens eine passende Position. Wir verfolgen das Prinzip der Second Best Kandidaten. Das 2-, 4- oder sogar 6-Augen Prinzip können wir aufgrund der Kapazitäten in erster Linie in Bereichen, wo man nicht von Bewerbungen ‚überflutet’ wird, umsetzen. Auch haben wir es uns zur Prämisse gemacht, alle Bewerbungen innerhalb von zwei Tagen zu sichten. Ja, das Zeitfenster der Bearbeitungszeit könnte verbessert werden.“

Ob das immer klappt, wage ich zu bezweifeln, denn von meinen bisher 96 Bewerbungen gingen drei (bisher erfolglos) ebenfalls an diese Bank. Auch hier landeten Standardabsagen in meinem Posteingang. (Anmerkung: Während der Fertigstellung dieses Textes flatterte die vierte in mein Postfach.) Ich frage nach, wieso man nicht wenigstens an der Transparenz im Falle von Absagen etwas verändern könne. Hier gäbe es klare Leitfäden, die AGG-konform sein müssen, erhalte ich als Antwort. Man gibt mir noch den Rat, dass es zwar bei Lebensläufen kein Schema F gäbe – es je nach Bereich etwas ausführlicher oder kreativer gestaltet sein könnte, letztlich jedoch das Prinzip „Je kürzer, desto besser“ zu empfehlen ist. „Bei uns sind Arbeitszeugnisse relevant, und wenn Bewerber:innen im Lebenslauf eine Verknüpfung zu ihrem LinkedIn Profil ergänzen, ist das auch sehr hilfreich“, so die Recruiterin. In meinem Fall wohl nicht. 

Mein Fazit: 

Wenn Daumen hoch oder runter von einer Person im Recruiting abhängt, dann ist es die dringende Voraussetzung, Menschen auf diese Positionen zu setzen, die vorurteilsfrei sind, die Menschenkenntnis, Interesse und ein offenes Herz haben. Unternehmen müssen ihre Zielgruppe kennen, wissen, wo diese zu finden ist, was sie braucht, sucht und worauf sie Wert legt. Und schließlich braucht es Raum für Nachfragen zu Absagen. Denn nur wer die Schwachstellen in seiner Bewerbung kennt, kann daraus lernen. —

Foto: Adobe Stock / Alex

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