Die Vernetzungs-Übersetzerin
Dienstagmorgen. Analysezeit. Maschinen blinken und piepen rhythmisch in ihrer ganz eigenen Sprache. Vor Dr. Nicola Rieke flimmern medizinische Daten über den Bildschirm – sie schaut genau hin. Jedes Detail, jeder Prozessschritt – alles betrachtet sie haargenau, denn was in einem einzelnen Fall für das menschliche Auge kaum sichtbar ist, könnte eine Bedeutung in einem größeren Zusammenhang haben. Doch Nicola Rieke ist keine Ärztin. Sie arbeitet an der vordersten Front der Entwicklung der künstlichen Intelligenz in der Medizinbranche und es ihr Job, die Sprache der Mathematik, Medizin, Industrie und IT in neue, effiziente Dialoge zu bringen.
Text: Stefanie Söhnchen
Denn wenn diese Fachwelten mit ihr kommunizieren – in all ihren Eigenarten und ihrer Komplexität – kann Nicola Rieke zwischen ihnen dolmetschen. Sie kann die Wirklichkeiten und Bedürfnisse jeder Disziplin verstehen und sie so verknüpfen, dass neue Wege, neue Möglichkeiten entstehen.
Damit ist sie eine der wenigen Frauen weltweit, deren Wissen an Schnittstellen andockt, bei denen das Fiepen der Computer und medizinischen Geräte, der Workflow eines:r Ärzt:in und modernste Wissenschaft sich gegenseitig zu einer besseren medizinischen Zukunft befähigen.
„Ich habe mich schon immer gefragt: Was passiert in einem Körpers? Was kann getan werden, um einem Patienten zu helfen? Und: Gibt es eventuell mehr Informationen in den medizinischen Daten, als wir auf den ersten Blick sehen?“, überlegt Nicola Rieke. Der große Wunsch, möglichst viele Menschenleben positiv zu beeinflussen und mit ihrer individuellen Sicht auf die Welt einen möglichst großen Beitrag zu leisten, ist der Kern ihres Antriebs.
Doch auch an der Mathematik hängt ihr Herz. Ihr Papa, ihr großer Bruder und ihre Cousins sind allesamt Informatiker, die Mutter unterrichtete Mathematik. „Ich habe daheim zwei Arten zu denken gelernt: hochgradig logisch und lösungsorientiert auf der einen Seite und empathisch, verknüpfend auf der anderen. Bei uns war es immer wichtig, Situationen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten – verschiedene Wege abzuwägen“, berichtet sie.
Ein Forscherinnenherz mit Logik und Empathie
Genau diese Art zu denken, ermöglicht es ihr und ihrem Forscherinnenherz, vorurteilsfrei und offen in die verschiedensten Welten einzutauchen, in ihnen zu kommunizieren und Muster zu verknüpfen, die anderen verborgen bleiben. Deshalb hat Nicola Rieke jahrelang an ihrer Fähigkeit gearbeitet, Zusammenhänge in den verschiedenen Disziplinen zu verstehen und Brücken zwischen den Welten zu schlagen. „Es ist nicht hilfreich, jedes Thema nur logisch zu betrachten. Vor allem, wenn Menschen Teil des Prozesses sind. Da geht es auch um emotionale Gründe, um persönliche Prägung und Gewohnheit. Der Beste Algorithmus nützt nichts, wenn ein Arzt letztendlich schneller mit seiner eigenen Methode sein kann, weil er sie gewohnt ist“, beschreibt sie den Balanceakt zwischen Erneuerungswille und realistischer Effizienz, den sie in ihrer Arbeit gehen muss. Doch weil sie in keiner Welt einfach nur Besucherin ist, sondern alle Sprachen spricht und in allen zu Hause ist, gelingt ihr das immer wieder.
Tatsächlich überlegte Nicola Rieke auch, gleich zum Studium in die Informatik zu gehen. „Als ich anfing, war das eine ganz klare Männerdomäne. Ich hatte Bedenken, was es mit mir macht, wenn ich so eine klare Außenseiterin bin – heute würde das nicht mehr so stark ins Gewicht fallen“, erzählt sie. Doch auch heute hat sie ein hohes Bewusstsein dafür, dass jeder Mensch mit seinem Wissen und seinen Talenten und seiner Lebenszeit ein Teil eines größeren Systems ist. Nicht im Sinne von „ein kleines Rädchen im System“, sondern im Sinne von „jeder leistet einen Beitrag“ und hat dabei eine Wirkung auf andere um sich herum. Und einer der besten Wege, einen Beitrag zu leisten, ist in dem Bereich, von dem man wirklich fasziniert ist.
Deshalb studiert sie zunächst eine Kombination aus Mathematik und Medizin an der RWTH Aachen. Diese zwei Welten haben für Nicola Rieke schon immer gut zusammengepasst. Theoretisch. Aber für die Übersetzung zwischen den abstrakten Konzepten der Mathematik und der realen Umsetzung in der Medizin bedarf es einer weiteren Sprache. Die Studienrichtung „Biomedical Computing“ bringt alle drei Fachgebiete an der TU München zusammen. In diesem Rahmen findet sie nicht nur endlich die noch fehlenden Vokabeln, um ihre Mission voranzutreiben – sie findet auch eine Gruppe Gleichgesinnter, in der Wissen und Unterstützung bereitwillig geteilt werden.
„Es ist so wichtig, sich Förderer zu suchen. Es kommt nämlich niemand einfach so vorbei – man muss das aktiv suchen und klar kommunizieren, was man möchte. Nicht als Forderung, sondern als klaren Wunsch“, resümiert die Artificial-Intelligence-Expertin. Und getrieben wird sie wieder von dem Wunsch, ein Teil von etwas Größerem zu sein. Vorbilder zu haben, die lehren, und selbst Vorbild zu werden, das Wissen weitergibt. Auf sich und auf andere schauend – gleichzeitig. „Ich denke, man kann eine Gruppe nur stark machen, wenn man selbst stark ist. Und es ist einfacher, selbst stark zu sein, wenn man vorher stark gemacht wurde“, beschreibt sie die ständige Wechselwirkung ihrer „Lern-Ökosysteme“. „Wer Teil einer Gruppe wird, die ein Thema fördert, fördert dadurch das Thema selbst und gibt etwas zurück.“
Der gleiche Glaubenssatz hat sie beim Thema künstliche Intelligenz (KI) auch in die Medizin geführt: „Ich bin überzeugt: ich nutze meine Zeit am besten, wenn ich etwas mache, das gleich potenziell das Leben von so vielen positiv beeinflussen kann“, sagt Nicola Rieke. In der medizinischen Welt gebe es so viele unzählige Daten, die aber häufig – aufgrund von fehlender Zeit oder zu großer Komplexität – von Ärzten und Ärztinnen nicht erfolgreich für ihren Arbeitsalltag eingesetzt werden können. „Medizin muss sich schnell verändern und Antworten auf immer neue Probleme finden. Oft können diese Antworten in der Auswertung der mathematischen Signale liegen, die uns beispielsweise der Körper sendet. Doch die Informationen sind so zahlreich – oft haben wir nicht genug Zeit“, ordnet sie ein. Und genau hier setzt KI an. Sie kann sowohl lästige Aufgaben, die sehr repetitiv sind, übernehmen als auch ganz neue Arbeitsweisen und Verknüpfungen von Lösungen liefern.
Balance zwischen Bewahren und Erneuern braucht Verständnis und Feingefühl
Sie hat ein praktisches Beispiel: „Die 3-D-Wahrnehmung und -Koordinierung ist für die Ärztin oder den Arzt während einer minimal-invasiven OP sehr schwierig. Er muss präzise 3-D-Bewegungen mit den chirurgischen Instrumenten im Inneren des Patienten ausführen während er diese normalerweise nur auf dem 2-D Bildschirm beobachten kann, der den Videostream der eingeführten Kamera überträgt – das kann für das Gehirn eine Hürde sein. Hier könnte ein Algorithmus anhand der Videodaten beispielsweise berechnen, wie weit Geräte von Oberflächen entfernt sind, und dadurch die Tiefenwahrnehmung der Ärztin oder des Arztes unterstützen oder automatisch auf Gefahren hinweisen“, erklärt Nicola Rieke. Und da liegt der Knackpunkt, wo ihre Übersetzungsleistung gefragt ist. Sie muss bestimmten, welche Anpassungen und Zusatzaufgaben für die Ärztin oder den Arzt sinnvoll und effizient sein können, um die Operation zu erleichtern. Sie muss bedenken, was das für Patient:innen heißt. Sie muss auf dem Schirm haben, was das für den Krankenhausablauf bedeutet und dann muss sie noch die datenwissenschaftliche Brille aufhaben und mitbedenken, was möglich und nötig ist. Um hier zu überzeugen, braucht es Nicola Riekes besondere Sicht- und Denkweise: „Jeder hat einen anderen Rhythmus. Nicht mein Rhythmus ist zwingend der richtige. Es ist wichtig, vorurteilsfrei an etwas heranzugehen, loszulassen und flexibel zu sein, damit man erkennen kann, wo neue Wege sinnvoll sind und wo Bestehendes besser erhalten bleibt“, fasst sie ihren Ansatz zusammen.
Sie stellt viele Fragen, beginnt Diskussionen, hört zu und genauso, wie ihre Algorithmen lernen, programmiert sie auch sich selbst immer wieder darauf, Neues hinzuzuziehen und ihre Denkweise anders zu verknüpfen. „Oft wollen Leute das Gleichen sagen oder das Gleiche erreichen. Aber ihre Formulierung ergibt nur in ihrer Welt Sinn. Hier kann ich übersetzen und zusammenführen“, erklärt Nicola Rieke.
An ihrem Beispielen merkt man schnell: Künstliche Intelligenz ist keine Science-Fiction. „KI kann insbesondere dann eine Hilfe sein, wenn wir sehr viele Daten haben, die möglichst schnell ausgewertet und verwendbar gemacht werden sollen“, beschreibt sie. Denn auch wenn eine einzelne Institution nicht genügend Daten zur Verfügung hat, um ein KI-Modell zu trainieren, gibt es neue Ansätze in Zusammenarbeit – hier kommt ihr Vernetzungsbewusstsein und ihr Fach-Dolmetscher-Gen ins Spiel. Sie hat sich aktuell dem sogenannten „Federated Learning“ verschrieben, bei dem verschiedene Datenquellen zusammenarbeiten, um einen gemeinsamen Ansatz zu entwickeln: „Bei Covid-19 hat kein Krankenhaus allein genug Daten, um ein verlässliches KI-Modell zu trainieren, das wichtige Schlüsse zur Behandlung ziehen könnte. Gleichzeitig können wir Patientendaten nicht einfach austauschen und zusammenführen. Wenn aber viele Krankenhäuser zusammenarbeiten und gemeinsam ein KI-Modell entwickeln, lässt sich plötzlich zum Beispiel der wahrscheinliche Sauerstoffbedarf von Covid-Patienten sehr genau voraussagen.
Federated Learning ermöglicht es, dass wir kollaborativ ein KI-Modell entwickeln können, ohne dass die Patientendaten jemals das Krankenhaus verlassen. Es werden nur die Erkenntnisse aus den lokalen Patientendaten geteilt. Alle Teilnehmer tragen dazu bei, dass das zusammen geschaffene Modell besser wird. Und alle profitieren von einem besseren Modell.“
Genau solche Hebel identifiziert Nicola Rieke durch den Dialog mit Ärzt:innen, Wissenschaftler:innen und Krankenhäusern, aber auch mit Kliniken, Forschungseinrichtungen, Start-ups oder Konzernen, und übersetzt diese dann in Algorithmen oder Industrie-Lösungen.
Und so steht Nicola Rieke an der Seite von Ärzt:innen und Fachexpert:innen in ganz Europa und beobachtet jeden Handgriff, mit dem Ziel, die medizinische Arbeit und Versorgung für uns alle zu verbessern: In ständigem Austausch zwischen Fachwissen und Menschlichkeit, damit wir alle vorankommen.
„Die Welt ist so groß. Wir sehen jeweils nur einen kleinen Teil davon. Deshalb ist das Vernetzen und der Austausch ein guter Weg, uns gemeinsam einen größeren Teil zu erschließen.“ —
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals in femMit Ausgabe 3.
Foto: privat