Arbeiten mit flexiblen Arbeitszeitmodellen
Nicht erst seit COVID-19 mit Homeoffice-Pflicht und Kontaktbeschränkungen besteht der Wunsch von Arbeitnehmer:innen nach flexiblen Arbeitszeitmodellen. Die Pandemie hat in den Unternehmen als Katalysator gewirkt. femMit zeigt, welche Möglichkeiten es gibt und welche Chancen sich für Unternehmen und
Beschäftigte bieten.
Text: Lydia Döring
Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass viele Jobs nicht nine to five am Schreibtisch im Büro erledigt werden müssen. Zwar verlangt eine Flexibilisierung eine gute Strukturierung und Organisation. Sie kann aber durchaus den Ansprüchen an modernes Arbeiten gerecht werden. Mitarbeitende schätzen die Zeit, die ihnen (zusätzlich) zur Verfügung steht und danken dies mit einer hohen Motivation und Identifikation mit dem Unternehmen.
Zeit für Veränderung
Agenturen und Firmen im IT-Bereich nehmen derzeit noch die Vorreiterrolle bezüglich flexibler Arbeitszeitmodelle ein. Doch auch im öffentlichen Dienst bewegt sich etwas. Die Ministerien in Rheinland-Pfalz und im Saarland haben Selbstverpflichtungen für eine familienbewusste Personalpolitik erarbeitet. Dort heißt es: „Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sichert die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und trägt insbesondere durch eine höhere Identifikation zur Wertsteigerung der Arbeitgebermarke des Landes bei.“
Diese mutigen Unternehmen probieren sich aus, nehmen die Wünsche ihrer Arbeitnehmer:innen in den Blick und sind an einer Weiterentwicklung interessiert. Jedes Unternehmen hat ein Interesse an Fach- und Führungskräften und hier bedarf es eines Umdenkens. „,Das geht bei uns nicht. Das haben wir schon immer so gemacht’, gilt nicht mehr”, ist sich Carmen Spoida, Head of People and Culture des Softwareentwicklungs-Start-ups Vertrical sicher. „Nicht jeder hat seine produktiven Phasen zwischen 9 und 17 Uhr.” Und nur weil jemand acht Stunden am Tag körperlich anwesend ist, sagt das nichts über seine Produktivität. „Kreativität kann nicht wie in einem Prozess am Fließband beliebig skaliert werden”, so Spoida. „Nur mit genug Freiräumen lassen sich Ideen entfalten und so kann man auf kreativem und kognitivem Level seiner Arbeit gerecht werden”, ist Lasse Rheingans überzeugt, der mit seiner Agentur den 5- anstelle des 8-Stunden-Tags praktiziert.
Auch die Lebenswelt der Arbeitnehmer:innen hat sich geändert. In den Startlöchern steht eine Generation mit einer anderen Mentalität, die die Welt globaler wahrnimmt und mehr Freiheit und räumliche Flexibilität erwartet. „Wenn Unternehmen zukünftig nicht nur mit Freelancern arbeiten möchten, sind sie gut beraten, flexiblere Modelle anzubieten”, findet Spoida. Denn ein dickes Gehalt und Vollzeitarbeit sind nicht mehr als das Maß der Dinge. Zudem spielt die Vereinbarkeit eine zunehmend größere Rolle: Vereinbarkeit mit Elternschaft, mit Pflege, mit Weiterbildungen oder persönlicher Entwicklung durch ehrenamtliche Tätigkeiten. Aber auch die Zeit zur Förderung körperlicher und mentaler Gesundheit hat letztlich einen positiven beruflichen Outcome.
Schritte zur Umsetzung
Grundvertrauen
Die Agentur für digitales Marketing Elbdudler aus Hamburg kommt seit Jahren ohne feste Arbeitszeiten aus. Der Geschäftsführer Christopher Rohs spricht von seinen Angestellten als mündigen Mitarbeiter:innen und appelliert an die Eigenverantwortung. Nicht alles müsse über Kontrolle geregelt werden. Die Agentur hat das Grundvertrauen in ihre Mitarbeiter:innen, dass diese ein gutes Ergebnis abliefern wollen. Einer ihrer Grundsätze lautet: „Mach es doch, wie es sinnvoll ist.“ Wenn der Kreative nachts die besten Arbeitsschübe hat, soll er diese nutzen und braucht morgens nicht im Büro zu sein. Damit die Kundenberatung gut arbeiten kann, sollte diese jedoch vormittags erreichbar sein.
Auch Carmen Spoida plädiert dafür, Mitarbeiter:innen die Arbeitszeit selbstständig einteilen zu lassen, um den eigenen produktiven Antrieb zielführend zu nutzen. Dafür sind Vertrauen der Führungskräfte in die Mitarbeiter:innen nötig und ausreichend Freiraum. „Welche Mitarbeiter:innen möchte ich haben? Intrinsisch motivierte oder durchregulierte?“ gibt Carmen Spoida zu bedenken und möchte den Zweifler:innen in den Leitungsebenen zurufen: „Vertrau auf deine Personalauswahl! Die Arbeit zeigt, ob jemand performt. Wer nichts beitragen will, trägt nichts bei, egal ob im Büro oder zu Hause.“
Durchhaltevermögen + Anpassung
Veränderung braucht Durchhaltevermögen. Unternehmen müssen in diesem Wandel begleitet werden und verkrustete Unternehmensstrukturen aufgebrochen werden. „Wer in seinen Stellenausschreibungen ein hohes Maß an Eigenmotivation, Selbstständigkeit und Flexibilität fordert, sollte genau hinterfragen, ob die eigene Betriebskultur dafür überhaupt den Rahmen bietet“, betont die Personalerin Spoida.
Gute Strukturierung
Für die Umstellung auf einen 5- anstelle eines 8-Stunden-Tags genügt nicht allein die Verkürzung der Arbeitszeit. Damit die Arbeitszeit produktiver und innovativer genutzt werden kann, müssen alte Arbeitsabläufe grundlegend überdacht, hinterfragt und geändert werden. Lösungsorientierung bei Konflikten, strukturierte Planung und eine offene Feedbackkultur helfen bei dieser Umwälzung. „Es bedarf viel Übung und Erfahrung, den Arbeitstag entsprechend einzuteilen, aber wir können sagen, dass es definitiv nicht unmöglich ist und es sich lohnt“, ist Lasse Rheingans überzeugt. Der entstandene Freiraum ist die Belohnung für fünf Stunden konzentriertes Arbeiten.
Initiative der Arbeitnehmer:innen
Arbeitnehmer:innen sind gefragt, für ihre Bedürfnisse einzustehen und Veränderungsprozesse beim Arbeitgeber anzustoßen. Denn Offenheit und den Wunsch, sich weiterzuentwickeln, braucht es auf beiden Seiten. Fragmentiertes Arbeiten (beispielweise vormittags Bürozeit und am Nachmittag oder Abend noch remote von zu Hause aus) kommt gerade jungen Eltern entgegen und ebendiese sind gefragt, bei ihrem Arbeitgeber Umdenkprozesse anzustoßen und auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Innerhalb eines Unternehmens sind auch verschiedene Arbeitszeitmodelle abbildbar. Moderne Software unterstützt hier bei den Prozessen.
Chancen und Herausforderungen
Die Benefits flexibler Arbeitsmodelle finden sich auf beiden Seiten. Für Arbeitnehmer:innen bedeutet es gute Vereinbarkeit mit dem Privatleben, sie können selbstbestimmt arbeiten, ihre Stärken ausspielen, Freiräume nutzen, produktive Phasen besser steuern und erzielen somit bessere Arbeitsergebnisse durch hohe Motivation. Arbeitgeber wiederum profitieren von der hohen Mitarbeitendenzufriedenheit, einer geringen Fluktuation und sparen finanzielle Ressourcen für Neueinstellungen. Zudem steigt durch zufriedene Mitarbeiter:innen auch die Arbeitgeberattraktivität. Unternehmen, die sich mit Fachkräftemangel konfrontiert sehen, können sich so auf dem Markt positionieren.
Herausfordernd bleibt, dass flexible Arbeitszeitmodelle ein hohes Maß an Selbstorganisation und Eigenverantwortung fordern. Nicht jede Persönlichkeit kann bei losen Rahmenbedingungen, die viel Freiraum bieten, produktiv sein. Es bedarf in Mitarbeiter:innengesprächen der ehrlichen Rückmeldung, was funktioniert und wo es hakt beziehungsweise engerer Strukturen und Vorgaben bedarf. Mitarbeiter:innen müssen befähigt werden, selbstbestimmt und kompetent mit ihren eigenen Bedürfnissen umzugehen und sorgsam die eigenen Ressourcen im Blick zu behalten.
Bei unbegrenztem Urlaub oder frei verhandelbarem Gehalt kann es im Team zu Neidanflügen kommen. Hier ist das Management gefragt, Transparenz zu schaffen, zu vermitteln, zu klären, wer gerade Vorrang hat und darauf zu achten, dass der gesetzlich vorgeschriebene Mindesturlaub auch von passionierten Workaholics eingehalten wird.
Die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit verschwimmen, wo Mitarbeiter:innen durch die technischen Möglichkeiten immer erreichbar bleiben und selbst entscheiden können, wie sie ihre Arbeitszeit verteilen. Bei einem 5- anstelle eines 8-Stunden-Tag liegt die Konzentration bewusst auf der Wertschöpfung. Das Gesellige mag hierbei zu kurz kommen. Das Management ist an dieser Stelle gefragt, dennoch Teambuilding-Prozesse im Blick zu behalten und für ein gutes Klima im Team Sorge zu tragen.
Arbeitnehmer:innen können auch auf Vertrauensbasis nicht unendlich Leistung erbringen. Die Ziele und zu erreichende Ergebnisse müssen klar abgesprochen, eingehalten und leistbar sein. Auch hier gilt die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Wird von den Mitarbeiter:innen stetig zu viel erwartet, werden als Konsequenz die guten Leute das Unternehmen verlassen. Bindung und Anerkennung sind hier grundlegend und überdurchschnittliche Leistung sollte entsprechend honoriert werden.
Appell zur Menschlichkeit
Carmen Spoida plädiert dafür, alte Denkschemata aufzubrechen: „Nicht wer am längsten im Büro bleibt, ist der beste Mitarbeiter. Wir müssen miteinander viel, viel menschlicher werden.“ Die Pandemie sollte als Gamechanger hin zu mobilem und fragmentiertem Arbeiten als hybrides Modell mit Präsenz- und Remotephasen genutzt werden. Und damit die Idee flexibler Arbeitszeitmodelle keine sozialromantische Fantasie bleibt, muss auch in Branchen mit Schichtdienst umgedacht und Anreize, wie zusätzlicher Urlaub oder monetärer Ausgleich, müssen geschaffen werden. Denn es braucht auch zukünftig noch Busfahrer:innen und Pflegekräfte, die ihren Beruf mit Überzeugung ausüben. „Es gilt, da anzufangen, wo es geht”, so die Personalerin Spoida. —
Foto: Adobe Stock / Pure Imagination
Hinweis: Dieser Text erschien in femMit Ausgabe 3
Warum arbeiten wir eigentlich (immer noch) 8 Stunden am Tag? - Humans! Not Resources.
2 Jahren ago[…] Bitte, liebe Arbeitgeber, fangt deshalb an, vorbehaltlos seit Jahrzehnten übernommene Kategorien wie Teilzeit- und Vollzeitarbeit zu hinterfragen. Öffnet euch für mehr Vertrauensarbeitszeit und vor allem für fragmentiertes Arbeiten. (Hierzu erschien im Sommer auch ein Beitrag im wunderbaren femMit Magazin.) […]
Warum arbeiten wir eigentlich (immer noch) 8 Stunden am Tag? – Humans! Not resources.
2 Jahren ago[…] Bitte, liebe Arbeitgeber, fangt deshalb an, vorbehaltlos seit Jahrzehnten übernommene Kategorien wie Teilzeit- und Vollzeitarbeit zu hinterfragen. Öffnet euch für mehr Vertrauensarbeitszeit und vor allem für fragmentiertes Arbeiten. (Hierzu erschien im Sommer 2021 auch ein Beitrag im wunderbaren femMit Magazin.) […]