Es reicht, Herr Chefarzt!

Unbezahlte Überstunden, mehr Dienste als gewünscht, keine Freizeit. Was früher im Ärzt:innenberuf als „normal“ galt, stößt bei jungen Ärztinnen und Ärzten immer häufiger auf Ablehnung. Der Ruf nach einer besseren Work-Life-Balance wird immer lauter. Niels Fleischhauer berät in seinem Unternehmen „Ärzteglück“ Ärztinnen und Ärzte, die nicht weiter über ihr Limit gehen wollen. 

Text: Niels Fleischhauer

70 Stunden pro Woche schuften, keine Mittagspausen machen und unzählige unbezahlte Überstunden leisten – was sich wie die Beschreibung einer Angestelltentätigkeit inmitten der industriellen Revolution anhört, ist heute der Arbeitsalltag vieler Mediziner. „Wer tut sich das freiwillig an?”, frage ich mich da oft. Das sind wohl Idealisten. Es sind Menschen, die angetreten sind, um ihren Mitmenschen in größter Not zu helfen – auf Kosten des eigenen Wohls, wenn’s sein muss. Auf diesen tapferen Schultern fußt unser Gesundheitssystem.

Doch wer genau hinhört, der bemerkt ein Rumoren, ein Brodeln. Ein „Wind of Change” liegt in der Luft, um die Scorpions zu zitieren. Immer mehr Ärztinnen gehen diesen Weg nicht mehr mit. Sie wollen mit ihren Körpern und Seelen nicht länger ein Gebäude stützen, welches auf ihrer Bereitschaft zur Selbstaufgabe fußt. Sie wünschen sich nicht mehr und nicht weniger als Arbeitsverhältnisse, bei denen sie dauerhaft glücklich sind.

Dauerhafte Überlastung

„Ich bin gezwungen, immer mehr Dienste zu machen, obwohl ich das gar nicht will”, berichtete mir eine 32-jährige Assistenzärztin der Gynäkologie aus Nordrhein-Westfalen. So wie ihr ergeht es vielen Kolleginnen. Überstunden häufen sich reichlich an und können kaum gezählt werden. Da macht es auch keinen Unterschied, dass diese in den meisten Fällen gar nicht erst aufgeschrieben, geschweige denn bezahlt werden. Das mache man eben so, lautet dafür die häufig genannte Erklärung. Gemeint ist nichts anderes als der Gruppenzwang unter Kolleginnen: Niemand möchte gerne als diejenige gelten, die am wenigsten arbeitet oder – Gott bewahre – einmal pünktlich Feierabend macht.

Der Marburger Bund erhebt alle zwei Jahre im Rahmen des „MB-Monitor” die Zufriedenheit von Deutschlands Ärzt:innenschaft. Die Resultate lesen sich regelmäßig wie ein Armutszeugnis für unsere Kliniken; und diese Missstände nehmen weiter zu: Der Großteil der Mediziner ist überlastet, verzichtet auf Pausen und vernachlässigt die eigene Gesundheit. Es ist zu befürchten, dass diese Entwicklung nicht ohne Folge für die Patientenversorgung bleiben wird.

Chefärzt:innen spielen eine zentrale Rolle in diesem System. Sie verantworten die wirtschaftliche sowie in aller Regel auch die personelle Ausstattung ihrer Abteilung und damit die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden. Meist handelt es sich bei diesen Chefärzten um Männer älteren Semesters, die – so drückte es einer meiner Kooperationspartner aus – in vielen Fällen am liebsten in ihrem Amt sterben würden. Chefärzte entstammen noch überwiegend einer Generation, die männlich dominiert war und ihren Wert innerhalb der Gesellschaft maßgeblich aus ihrer Arbeitsleistung ableitete. Sie haben nun vermehrt junge Ärztinnen und Ärzte unter sich, die sich fragen, welche wertvollen Facetten ihr Leben abseits der Medizin haben könnte. Damit stoßen sie bei den Chefärzt:innen regelmäßig auf großes Unverständnis.

„Die wenige verbleibende Freizeit verbringe ich meist damit, mich zu fragen, wie ich aus dem Beruf aussteigen kann.”

junge Assistenzärztin der Radiologie aus Baden-Württemberg

Die Folgen dieses Spannungsverhältnisses zwischen zwei scheinbar so gegensätzlichen Generationen von Medizinern sind Burn-outs oder die Kündigung von Nachwuchskräften, wie eine Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege zeigt. Viele von ihnen wollen einfach nur „raus” – so wie etwa eine 30-jährige Assistenzärztin der Radiologie aus Baden-Württemberg: „Die wenige verbleibende Freizeit verbringe ich meist damit, mich zu fragen, wie ich aus dem Beruf aussteigen kann.” Was sich zuerst wie eine Umschreibung für die Aufgabe anhört, ist eigentlich eine Umformulierung des Berufsverständnisses von Medizinern und ein Streben nach menschlicher Wertschätzung.

„Wind of Change“

Täglich lerne ich Ärztinnen kennen, die das etablierte, die Patient:innen auf Abrechnungsziffern und die Mediziner:innen auf Arbeitszeiten reduzierende Gesundheitswesen nicht länger mittragen wollen. „Ich habe mein Soll erfüllt”, stellte eine 41-jährige Assistenzärztin der Kinderheilkunde aus Rheinland-Pfalz fest. Ärztinnen wie sie wünschen sich mehr Zeit für ihr Privatleben, für ihre Familie. So formulierte eine 36-jährige Fachärztin für Viszeralchirurgie aus Nordrhein-Westfalen ihr Dilemma: „Ich bin gerne Ärztin – und gerne Mama.” In der gesamtdeutschen Wirtschaft sind Work-Life-Balance und – spätestens seit Corona – Homeoffice etablierte Bestandteile des Arbeitslebens. Viele Ärztinnen fragen sich jetzt berechtigterweise: „Was ist mit uns?”

Bei meinem Unternehmen Ärzteglück melden sich zu etwa 80 Prozent Ärztinnen – also weit überdurchschnittlich viele Frauen. Auch in meinen Gesprächen merke ich, dass Ärztinnen dem eigenen beruflichen Glück näher zu sein scheinen als ihre männlichen Kollegen. Sie müssen nicht um jeden Preis ihren Mann beziehungsweise ihre Frau stehen. Anders als männliche Ärzte geben sie zu: Auch Mediziner:innen dürfen Schwächen haben und sind nicht allen Aufgaben gewachsen; und das ist in Ordnung. Zudem spüren sie intuitiv, was längst durch Studien belegt ist: je gesünder die Ärztin oder der Arzt, desto besser die Behandlungsqualität. Indem diese neue Generation von Ärztinnen aufs eigene Wohl achtet, stärkt sie indirekt die Qualität unserer Patient:innenversorgung.

Perspektiven aufzeigen

Die Ärztinnen, die mich kontaktieren, klingen verzweifelt bis hoffnungsvoll; sie leiden seit Jahren unter ihrem Arbeitspensum oder haben bereits gekündigt; sie kommen frisch von der Hochschule oder füllen bereits eine leitende Position aus; doch sie alle vereint der Wille zum Wandel.

Mich interessieren weniger Approbation, Studiennoten oder Facharzttitel. Meine erste Frage lautet immer: „Wie glücklich sind Sie mit Ihrer aktuellen Tätigkeit?” Das kommt für viele überraschend, sind sie es doch gewohnt, anhand validierbarer Kriterien gemessen zu werden. Meist gelingt es uns dann rasch, zur eigentlichen Motivation der Ärztinnen vorzustoßen: „Wie sollte mein Arbeitsumfeld aussehen, damit ich dort dauerhaft glücklich sein kann?”

Meine Aufgabe ist es, den Ärztinnen Perspektiven zu eröffnen; denn Perspektiven schaffen Möglichkeiten und somit neue Hoffnung. Erstaunlich oft begegnet mir übrigens der Wunsch, einfach nur Ärztin zu sein – mit geregelten Arbeitszeiten und mehr Zeit für die Patienten. Deshalb habe man den Beruf ja schließlich gewählt.

Sie möchten wie andere Arbeitnehmer auch „nur” 40 Wochenstunden haben –
keine 60, 70 oder gar 80.

Es besteht übrigens ein großer Irrtum bei einigen Chefärzten, die denken, alle Ärztinnen würden nur 20 Stunden die Woche arbeiten wollen und die restliche Zeit zu Hause die Füße hochlegen. Nein, sie möchten wie andere Arbeitnehmer auch „nur” 40 Wochenstunden haben – keine 60, 70 oder gar 80. Sie wollen, dass der Inhalt des gemeinsam vereinbarten Arbeitsvertrags eingehalten wird. Sie fordern, dass das in Deutschland geltende Arbeitszeitgesetz auch bei ihnen Anwendung findet.

Neue Tätigkeitsfelder für Ärztinnen

Vielen Ärztinnen ist nicht klar, dass zwischen verschiedenen Häusern – ja sogar Abteilungen – teils große Unterschiede herrschen, was die Arbeitsbelastung oder das Arbeitsklima angeht. Oftmals fehlt nur der sprichwörtliche „Fuß in der Tür”, um sich unverbindlich mit der dortigen Klinikleitung zu unterhalten. Auch ein Wechsel der Ausbildung zum:r Fachärzt:in kann eine sinnvolle Alternative sein.

Im Zuge moderner Arbeitszeitmodelle bröckeln selbst in Krankenhäusern etablierte Strukturen. So schreiben immer mehr Kliniken selbst Stellen als Chefärzt:in in Teilzeit aus. Auch das Aufteilen des Postens auf mehreren Schultern ist inzwischen Realität geworden.

Manche Medizinerinnen definieren den Beruf des:r Ärzt:in gleich ganz neu: Sie machen sich selbstständig – aber nicht mit einer Praxis oder als Honorarärztin. Sie gründen ein Unternehmen, welches keine klassische Patientenbetreuung anbietet. Das sind beispielsweise eine Online-Ernährungsberatung, eine Agentur für Praxismarketing oder eine medizinische Unternehmensberatung. Beispiele wie diese habe ich zuhauf in meinem persönlichen Netzwerk.

Die Tätigkeit, mit welcher eine Ärztin dauerhaft glücklich ist, fällt höchst individuell aus. Doch egal in welchem Bereich – entscheidend ist in jedem Fall der erste Schritt: Der Wille, das eigene Wirken zu verändern und sein berufliches Glück zu finden. —

Hinweis: Dieser Text erschien erstmals in femMit-Magazin Ausgabe 3

Bild: Adobe Stock/Robert Kneschke

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