Ich sprüh’s an jede Wand
Die urbane Kunst hat viele Gesichter, spricht unterschiedliche Sprachen und ist ebenso wenig homogen wie ihre Kollegin, die Kunst in Galerien und Ausstellungen. Die Gemeinsamkeit der zwei großen Richtungen Graffiti und Street Art ist der öffentliche Raum. Graffiti standen lange Zeit eher für männliche Dominanz, in der später aufkommenden Street Art hatten Frauen von Beginn an mehr Repräsentanz.
Autorin: Meike Spanner
Jasmin Siddiqui alias Hera von Herakut aus Frankfurt am Main war kurz vor unserem Gespräch noch in Detroit und hat ein Mural – also ein sehr großes Wandbild – fertiggestellt. Es reicht nun über 17 Stockwerke, ist weithin sichtbar. Es zeigt ein traurig blickendes Mädchen.
An einem Tag, an dem sie oben auf der Hebebühne daran arbeitete, schrie ein Passant, ein circa 60-jähriger weißer Mann, sehr aggressiv in ihre Richtung, warum sie denn keine ‚weiße Personen‘ malen könne. „Offensichtlich fühlte er sich in der Opferrolle und unterrepräsentiert. Er wollte auch keine Antwort darauf und rannte schnell weg. Ich war wütend und dachte nur, dass ihm die unzähligen Skulpturen in der Stadt, die weiße Männer darstellen, wohl immer noch nicht reichen“, so Hera.
Hera lässt sich von negativen Erlebnissen nicht unterkriegen. Feminismus war und ist bis heute eines ihrer Hauptmotive, sich überhaupt so intensiv der Street Art zu widmen und dabei zu ihrer Weiblichkeit zu stehen. Nicht alle Frauen in der Street Art sehen das so. Einige möchten nicht als Frau erkannt werden, damit ihre Werke möglichst neutral betrachtet werden. Tatsächlich bedeutet das allerdings meistens keine Neutralität, sondern die Vermeidung einer von vornherein getroffenen Abwertung. Wieder andere möchten die Gesellschaft schon weiterentwickelt wissen und vertreten in ihrer Street Art die Haltung von sich auflösenden Geschlechterunterschieden, indem solche eben keine Rolle mehr spielen sollen und dürfen.
The sound of change has many voices – all should be heared from here around the world. (Der Klang der Veränderung hat viele Stimmen – alle sollten gehört werden, von hier rund um den Erdball.)
„Ich habe dieses Mural bei einem Festival der NGO Street Art For Mankind erstellt. Das Mädchen in dem Bild teilt sich ein Mikrofon mit Singvögeln. Ein Mädchen wollte ich deshalb abbilden, da Kinder in diesem Bezirk von Detroit unterrepräsentiert und fast ausnahmslos Büros für internationale Finanzgeschäfte zu finden sind. Singvögel zeige ich, weil sie ein guter Indikator für die Biodiversität eines Ortes sind. Dabei habe ich den Staatsvogel von Michigan gewählt, nämlich das amerikanische Rotkehlchen, zudem aber noch viele weitere in unterschiedlichen Farben, um wiederum Diversität abzubilden. Dass jeder und jede gehört werden sollte, ist die Aussage, für die ich mit dem Bild eine Illustration gefunden habe.“ Hera
Foto: Hera
Zwischenfälle sind traurige Realität
Die Relevanz von Frauen in der Street Art wird heute immer größer. Die besondere Situation, ohne Atelier und Galerie Kunst ausüben zu können, verspricht größtmögliche Freiheit. Durch einen fehlenden Schutzraum macht sie aber auch angreifbar. Viele Frauen berichten davon, negative Erfahrungen zu machen. Dumme Kommentare, angefüllt mit Sexismus und Rassismus, wie sie Hera in Detroit erlebt hat, sind das eine. Tätliche Übergriffe das andere.
Emesa (Karlsruhe) berichtet, wie von Männern offen Dinge in ihre Richtung geschrien wurden, die diese ihr gerne sexuell antun würden. „Einige Männer standen dabei und kicherten. Sie versuchten, das Verhalten ihres Kumpels zu rechtfertigen und sagten ‚Mach dir keine Sorgen, er hat nur ein paar Bier zu viel, er ist nicht wirklich so‘. Danach aber wurden die verbalen Entgleisungen über die sozialen Medien verbreitet.“
Danielle Mastrion (USA) erzählt, dass sie einmal von einem Typen hochgehoben wurde: „Er warf mich in ein Tor und sprühte mir dann mit meiner eigenen Sprühfarbe ins Gesicht.“
Ashley Hodder (USA) berichtet, dass sie meist allein arbeite. „Aber in den seltenen Fällen, in denen ich Assistenten eingestellt habe, waren das immer Männer. Wenn sie dabei sind, geht man davon aus, dass ich die Assistentin bin und die Männer die Hauptkünstler.“
Hayley Welsh (England & Australien) malte auf einem Straßenkunstfestival und wurde von der Polizei danach gefragt, ob sie denn eine Betriebserlaubnis für den Lift hätte, den sie benutzte. Sie war wütend, denn Dritte hatten die Polizei gerufen und an der Richtigkeit ihres Tuns gezweifelt. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies nur passiert ist, weil ich eine Frau bin. Als Konsequenz gebe ich mir, wenn ich im Lift fahre, besonders viel Mühe, allen kleinen Mädchen, die vorbeikommen, klarzumachen, dass ich eine Frau bin und ja, dass Mädchen das auch tun können.“
Weibliches Selbstverständnis in der Street Art
Frauen bringen auf unterschiedliche Weise Vielfalt in die Street Art: durch ihre Anliegen und jene Erfahrungen, die spezifisch weiblich sein können. Diejenigen, die die Entwicklung von den Anfängen mitbekommen haben, sehen die Street Art im Vergleich zu Graffiti häufig als die weiblichere Version an. Wenn in der Street Art zum Beispiel Projekte mit verschiedenen Artists gemacht würden, gehe es nicht um einen Wettkampf, sondern eher um ein kompromissbereites Miteinander. „In der Street Art herrscht eine Offenheit zur Kommunikation. Die weibliche Seite ist das Bemühen, etwas Bereicherndes zu schaffen, ein Angebot zu unterbreiten und eben nicht nur Territorialität zu demonstrieren“, betont Hera.
Sie vertritt eine optimistische Haltung, ihre Worte haben auffordernden Charakter. „Wahrscheinlich wären viel mehr Frauen handwerklich dazu in der Lage, Street Art zu machen. Viele kommen aber leider nicht darauf oder trauen es sich nicht zu“, sagt Hera. Wenn auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen vielleicht nicht optimal sind, sie waren in der demokratischen Welt nie besser als heute.
Hintergrundflimmern
Wandmalerei hat eine Geschichte, die so alt ist wie die Menschheit. Schon Höhlenmenschen verschönerten ihre Wände und versahen sie mit Symbolen. Ein etwas jüngerer Startpunkt von Graffiti wird im New York der 1970er-Jahre ausgemacht. Die einen befassten sich nur damit, ihre Signatur, den „Tag“ zu hinterlassen, andere entwickelten im Laufe der Zeit komplexe Typografien und unterschiedliche Stile, das „Stylewriting“. Beides diente und dient dazu, den eigenen Fuß- oder besser gesagt Wandabdruck zu hinterlassen, und kann als Territorialverhalten – vor allem junger Männer – angesehen werden. In den 1980er-Jahren erreichte Graffiti Europa.
Fame erlangen diejenigen Sprayer, die „all city“ sind, also überall in der Stadt oder im eigenen Viertel sprühen, handwerkliches Können beweisen und an den gefährlichsten Orten Bilder anbringen. Ebenso wichtig sind Codes, die ausschließlich die Szene versteht. Der Nervenkitzel, sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Ordnungskräften zu liefern, ist Teil des Ganzen. Auch diese Szenerie wurde von Männern geprägt. Frauen kamen in der frühen Phase des Graffiti vorwiegend dann vor, wenn Sprayer ihren Freundinnen eine Widmung hinterließen.
Ab den späten 1980ern stand Graffiti zwar für eine eigene Ausdrucksform, wurde aber von vielen als ein Teil der Hip-Hop-Kultur definiert. Hip-Hop beinhaltet neben Graffiti noch Breakdance, DJing und Rap. Die Werbeindustrie stürzte sich auf diese Klientel, schuf Marken und sponserte Veranstaltungen. Auf Hip-Hop-Jams, in denen alle vier Disziplinen ausgeübt wurden, kamen die ersten Wände ins Spiel, auf denen „legalisiert“ gesprüht werden konnte.
Street Art kam später, erst Anfang der 2000er, auf. Sie entstand aus der Graffitibewegung, entwickelte sich dann aber eigenständig. Street Art bewegte sich von Beginn an sehr viel internationaler, über Stadt- und Ländergrenzen hinweg. Die Trennlinie zwischen Street Art und Graffiti verläuft keineswegs mehr zwischen „gefragt“ und „ungefragt angebracht“. Eine wichtige Unterscheidung ist aber die Adressierung. Street Art richtet sich an alle Betrachterinnen und Betrachter, da die Aussagen unverschlüsselt und damit für viele Menschen verständlich gehalten werden. Beigefügte Sätze ermöglichen, den Bildinhalt zu bekräftigen. Die Botschaften wurden zunächst als wichtiger erachtet als die Personen dahinter.
Marija Silvija Ambrazeviciute aus Karlsruhe,
Künstlerinnenname Emesa, am Start bei einem Character Jam in einem Jugendhaus in Frankfurt im Sommer 2023.
Foto: Stephan Hollich
Vor allem Banksys Werk wird diesbezüglich große Bedeutung beigemessen. Als einer der ersten brachte er seine Antworten zu politischen Ereignissen zielsicher mit Witz und Ironie auf die Wände. Doch trotz oder gerade aufgrund seiner Anonymität hat sich um ihn ein Personenkult entwickelt, der inzwischen absurde Ausmaße angenommen hat, inklusive einer maßlos hohen Bewertung durch den Kunstmarkt.
Generell ging und geht es in Graffiti und Street Art immer um Sichtbarkeit: darum, Kunst nicht den Eliten zu überlassen, die entscheiden, was in Galerien und Museen stattfinden darf und was nicht. Und darum, den öffentlichen Raum nicht denen zu überlassen, die sich ermächtigen, über dessen Nutzung zu entscheiden. Und auch darum, Wut als Reaktion auf gesellschaftliche Missstände Ausdruck zu verschaffen. Genauso ist Gestaltung ein Anliegen: graue Wände bunt werden zu lassen, bereichernd zu wirken, Ästhetik anzustreben und Kunst zu machen. —
Titelbild: Streetart For Mankind