Man ist nicht reich, nur weil man auf dem Papier nicht arm ist
Text: Jacinta Nandi / Illustration: Paula Huhle
Manchmal wache ich auf und will sofort wieder einschlafen – und heute ist einer dieser Tage. Ich habe eine Mahnung vom Zahnarzt bekommen, für eine Rechnung, von der ich sicher war, ich hätte sie bezahlt. Und ich musste wegen eines Magen-Darm-Infekts meines Sohnes einen Auftritt absagen. Dabei hatte ich vor zwei Wochen, als ich Corona hatte, doch schon so viele Auftritte abgesagt!
Ich fühle mich müde und enttäuscht, arm und verzweifelt. Ich fühle mich ziemlich … alleinerziehend gerade.
„Alleinerziehend sein ist das Armutsrisiko Nummer eins!“, sagt mir meine verheiratete Freundin Saskia am Telefon. Soll das tröstend sein?
„Ja, ja, ich weiß!“, antworte ich. Wer weiß das, wenn nicht ich? Ich spüre die Armut, das Elend, die Benachteiligung jede Sekunde.
„Ich google das gerade, während ich mit dir spreche“, sagt sie fröhlich. „43% aller alleinerziehenden Familien sind einkommensarm! Ist das nicht schrecklich?“
Ich lege schnell – und verärgert – auf. Im Moment ärgere ich mich sehr viel über meine finanzielle Situation, und da helfen die Statistik und Saskias freundliche Wörter mir nun auch nicht weiter.
Ich watschele in die Küche, mein Sohn spielt gerade Lego, aus irgendeinem Grund im Korridor. Ich lasse ihn. Gestern, als ich den Auftritt abgesagt hatte, sah er wirklich schlimm aus. Die Kinderärztin hat gesagt, dass er eventuell eine Blinddarmentzündung haben könnte! Ich hatte wenig Schlaf, weil er die ganze Nacht geheult hat, und rief sofort bei der Veranstalterin an, um den Termin abzusagen. Ich kam mir wie die RABENDSTE von allen Rabenmüttern vor.
Nachdem die im Krankenhaus gesagt haben, dass es keine Blinddarmentzündung ist, ging es bergauf und dem Bauch besser. Jetzt fühle ich mich wirklich wie eine Rabenmutter – weil ich, wenn ich ihn fröhlich spielen sehe, gleichzeitig die Euroscheine sehen kann, die der abgesagte Auftritt mich gekostet hat. Mein Sohn guckt hoch zu mir. „Es tut mir leid, dass die Chefin vom Krankenhaus dir gesagt hat, du darfst keine Shows mehr machen, Mama. Werden wir immer noch in diesem Haus wohnen dürfen, wenn du weniger Geld hast?“ Okay, jetzt bin ich tatsächlich die RABENDSTE Rabenmutter, die es gibt. Mein Sohn muss gehört haben, wie ich am Telefon über das verlorene Geld gelästert habe. Ich sehe mich als eine Riesenrabenmutter, mit großen schwarzen Flügeln, alle Rabenmütter der Welt fliegen mir hinterher. Unsere Kinder liegen am Boden, nackt und hungrig.
„Wir haben immer genug Geld, um hier zu wohnen, mein Schatz“ sage ich tröstend, und verbiete es mir, den Satz zu ergänzen mit einem „Aber Weihnachten werden wir doch absagen müssen“.
Beim Abwaschen denke ich an meine Geldsituation. Seitdem ich meinen Ex-Mann verlassen habe, versuche ich wirklich, positiv über Geld zu denken. Aber als freiberufliche Autorin und Schriftstellerin mitten in einer Pandemie war der einzige Weg für mich, eine Wohnung zu finden, dass ich mich beim Jobcenter anmeldete und eine WBS-Bescheinigung holte. Anders hielt ich es für quasi unmöglich, als Alleinerziehende eine Wohnung zu finden. Ich persönlich fand, dass das Leben auf Hartz IV sehr schwer und auch deprimierend war. Die Stigmatisierung, besonders der Gedanke, dass ich eine Ausländerin war, die abhängig vom Amt gewesen ist, hat mich sehr bedrückt. Ich hoffe, dass ich das erwähnen kann, ohne andere Frauen zu stigmatisieren? Ich empfinde das nicht so bei anderen Menschen, dass sie sich schämen sollen, wenn sie Hartz-IV in Anspruch nehmen. Aber ich empfinde es für mich als demütigend. Jeder Brief, jedes Telefonat, kostet mich viel Energie und löst oft Angstgefühle aus.
Seit Mai 2021 bin ich nicht mehr beim Amt, und in manchen Monaten habe ich nicht viel mehr Geld als damals. Aber es geht mir besser – psychisch, manchmal sogar finanziell. Und manchmal auch nicht. Im Januar und Februar 2022 habe ich nicht viel mehr arbeiten können als im Lockdown – da wir ständig in Quarantäne oder tatsächlich erkrankt waren!
Aber ich versuche, positiv zu bleiben. Ich klebe Sticker, auf denen „I AM A MONEY MAGNET!” steht, am Badezimmerspiegel und am Rechner auf. Auch auf der Spüle in der Küche, ich lese das beim Abwaschen. Ich muss sie immer abziehen, wenn jemand mich besucht, weil es peinlich ist. Besonders wenn linke Männer mich besuchen! Ein Bild von Rihanna*, wie sie singt „Bitch Better Have My Money“ (das Musikvideo wurde kritisiert, weil es frauenfeindlich ist, das Lied, von einer Ex-Berlinerin geschrieben, liebe ich trotzdem) hängt in meinem Arbeitsbereich und soll mich daran erinnern, meine Rechnungen rechtzeitig zu schreiben. Ich versuche, positiv zu bleiben und nicht traurig zu werden, wenn ich von der Kindergelderhöhung bei einem Kind nur die Hälfte kriege, weil das extra Geld vom Unterhalt abgezogen wird, und wenn ich bei dem anderen Kind gar nichts sehe, weil alles mit dem Unterhaltsvorschusskasse-Unterhalt ausbalanciert wird. Ich versuche, positiv zu bleiben, für das Geld, was ich habe, dankbar zu sein – und mehr Geld in mein Leben einzuladen!
Meine Freundin Saskia ist wieder am Telefon.
„Bist du sauer auf mich, Jacinta?“, fragt sie. „Du hast mich falsch verstanden! Ich will nicht, dass du zu hart mit dir selbst bist. Alleinerziehende leben halt oft in Armut. Du machst nichts Falsches.
Ich bewundere dich dafür, dass du als Alleinerziehende mit dem Schreiben deine Familie ernährst! Ich wollte dich trösten!“
„Ich weiß“, sage ich. Wir reden weiter. Saskia ist eine der Guten. Wie ich, sie ist eine feministische Sozialistin, eine sozialistische Feministin. Und man muss die Tatsachen anerkennen. Ich kann so viel Geld einladen in mein Leben, wie ich will – wenn 43 % der Ein-Eltern-Haushalte in Armut leben, gibt es strukturelle Probleme. Aber wisst ihr was? Ich will die Statistiken nicht leugnen, und ich streite nicht ab, dass viele Alleinerziehende in Armut leben. Doch ich persönlich habe jetzt mehr Geld, als ich damals, als ich noch mit dem Kindesvater zusammenlebte. Ich war zwar auf Papier nicht arm. Aber man ist nicht reich, nur weil man auf Papier nicht arm ist. Ich hatte nicht genug Geld auf dem Konto, um mir beim Bäcker einen Kaffee zu kaufen.
Nun bin ich nicht die Person, die Finanztipps geben sollte: Ich habe sehr viele unnötige Dinge bezahlt in meinem Leben (zum Beispiel über 2.000 € Hortkosten wegen eines verlorenen Zettels). Und meine Rentensituation ist der reinste Alptraum – wenn wir nicht, bis ich ins Rentenalter komme, wieder den Sozialismus eingeführt haben, werde ich eine Bank überfallen müssen. Trotzdem: In einer unglücklichen Beziehung zu bleiben, aus Angst vor Armut, das ist nicht der richtige Weg. Wenn man für das Geld, mit dem man eine ganze Familie stemmen soll, alleine zuständig ist, hat man viele Belastungen im Leben. Und doch glaube ich, sollten offizielle Statistiken nicht dazu führen, dass Frauen bei Männern bleiben, die sie nicht mehr lieben. Oder die sie nicht respektieren. Verlasst eure Männer – und macht eine Vision Board von eurer Zukunft als unabhängige, finanziell abgesicherte, glückliche Frauen! —
*Leider wegen ihrer Unterstützung von Johnny Depp inzwischen abgehängt.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals in femMit Magazin Ausgabe 5.