Stricken für eine gleichberechtigte Demokratie

Vor 50 Jahren erhielten die Schweizerinnen das Stimmrecht. Ein Grund zum Feiern? Ja und Nein, sagen die Initiatorinnen von 1971.sh und strickten einen imposanten Wandteppich. Nun hängt der “Liesmeteteppich” als Symbol für das Erreichte aber auch für die vielen Baustellen, die auf dem Weg zu einer gleichberechtigten Demokratie noch offen sind,  am Stadttheater Schaffhausen.

Von Indrani Das Schmid

Schaffhausen, “Warum?”, Deborah Isliker blickt für einen Moment direkt in die Kameras, um sich wieder zu ihrem Publikum zu wenden. Gut 30 Passanten stehen an diesem Februar Samstag Morgen vor dem Stadttheater Schaffhausen und recken ihre Hälse. Während die Kameraleute bäuchlings auf dem Winterboden liegen. Ihn gut in die Linse zu bekommen, ist nicht einfach. Da braucht es schon einige Verrenkungen. Denn er ist schon ein auffallendes Prachtstück, dieser “Liesmete-Teppich” mit dem Schweizer Kreuz in der Mitte. Lismen ist Schweizerdeutsch und bedeutet “stricken” und das schweizerische “Plätzli” bedeutet “Stück”. Und so besteht dieser Wandteppich aus 1971 “gelismeten Plätzli”, also aus 1971 Strickquadrate, erklärt Deborah Isliker von der Aktionsgruppe 1971.sh. Diese strickten Frauen aus der gesamten Schweiz. Selbst aus dem Ausland, sogar aus den USA wurden sie nach Schaffhausen geschickt. Um ein Zeichen zu setzen!

50 Jahre Frauenstimmwahlrecht 

1971 erhielten die Schweizerinnen nach einem sehr langen Kampf das Frauenstimm- und Wahlrecht. Auf Bundesebene. Kantonal durften einige bereits seit 1959 abstimmen. Vor allem in der französischsprachigen Schweiz. Doch die Bundesregierung zu wählen oder gar gewählt zu werden, dass war den Frauen erst mit dem Sieg am 07. Februar 1971 möglich. Ein Sieg, an den sich einige der älteren Damen noch erinnern. Auch, wie es war, nicht abstimmen zu dürfen. “Meine Mutter hatte immer geschäumt, dass sie zu den Händlern gehen sollte, die sich um den Marktplatz aufstellten. Während die Männer auf dem Marktplatz – in der so genannten Landgemeinde –  per Handzeichen über Vorlagen und Gesetzentwürfen abstimmen konnten. Sie dagegen sollte für sich und uns Kindern etwas Schönes kaufen. Das machte sie auch. Sie kaufte uns das Beste, was sie bekam und stellte sich dann so auf, dass sie meinen Vater gut im Blick hatte.” Die Augen der alten Dame, die ihren Namen nicht nennen möchte, blitzen. Das war im kleinen Kanton Appenzell Innerrhoden, der sich bis 1991 gegen das Frauenstimmrecht stemmte. Und sich erst dem Urteil des obersten Gerichts der Schweiz – dem Bundesgericht – beugte. Knurrend. Denn im Gegensatz zu Deutschland gilt in der Schweiz der Grundsatz “So wenig Staat wie möglich.” Was bedeutet, dass die Gemeinden und Kantone grössere politische Macht und Befugnisse haben als der Bund. Die Festlegung der Steuern durch die Gemeinden ist nur ein Beispiel. Gemeinden können auch darüber befinden, wie viel sie für Kindertagesstätten und Kindergärten ausgeben möchten, wann bestimmte Ferienzeiten sind. Das wäre an sich kein Problem, wenn, ja wenn…

Der Liesmeteteppich am Schaffhausen Stadttheater.

„Altersarmut unter Frauen ist häufig.
Bei Männern hingegen kommt sie kaum vor.“

Hoffnung auf die jüngere Generation

“Warum müssen wir Frauen uns immer noch Gedanken darüber machen, wie wir Familie und Beruf vereinbaren sollen?” ruft Deborah Isliker den Zuhörer*innen zu. Zustimmendes Geraune. “Warum müssen wir immer noch für eine gerechtere Altersversorgung kämpfen?” Das hört sich familiär an. Forderungen wie diese werden in fast allen Ländern laut. Doch die Situation in der Schweiz ist tatsächlich speziell. Zum einen gilt in diesem Land die Devise “Kinder sind Privatsache”, was viel zu wenige erschwingliche staatliche Kindertagesstätten zur Folge hat. Es gibt zwar Mittagstische. Aber generell wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Kinder direkt nach der Schule nach Hause gehen können. Und dort ein Familienmitglied vorfinden. Kleine Kinder sollten nach landläufiger Meinung sowieso bis zum fünften Lebensjahr zuhause betreut werden. Erst dann fängt auch die offizielle Schweizer Kindergartenzeit an, die eher einer Vorschule gleicht. Betreuung nach deutschem System wird zwar angeboten, meist jedoch auf privater Basis und ist sehr teuer. Kosten bis zu 120 Franken pro Tag sind keine Ausnahmen. So ist es kein Wunder, dass viele gut ausgebildete Frauen dann lieber zuhause bleiben oder eine innerfamiliäre Lösung suchen. Oder auf die Grossmütter zurückgreifen, deren freiwilliger Betreuungsdienst bis noch wenigen Jahren als selbstverständlich angesehen wurde. Und nicht gewürdigt wurde, obwohl sie dem Schweizer Staat Kosten bis zu einer 1 Mrd. Franken pro Jahr ersparten, so eine Credit-Suisse Studie. Dagegen begehrten die älteren Frauen in der so genannten “Grossmütter-Revolution” zum ersten Mal vor gut elf Jahren auf. Dagegen streikten in einem der grössten Streiks der Schweizer Geschichte die Frauen vor gut 18 Monaten. Denn all diese Betreuungszeit wird nicht der Rente angerechnet. Altersarmut unter Frauen ist häufig. Bei Männern hingegen kommt sie kaum vor. Eine schreiende Ungerechtigkeit, wie auch der Gender Gap bezüglich Lohn und ökonomischer und politischer Machtverteilung. “Es muss sich etwas verändern”, bekräftigt der Schaffhauser Regierungsrat Dino Tamagni und hofft auf die junge Generation. Damit implizit er auch die jungen Männer, die im letzten September das Recht auf einen 10tägigen Vaterschaftsurlaub nach Jahrzehnten erkämpft haben. 

„Wir feiern nicht. Wir sind noch nicht am Ziel.“

Der Teppich als Startschuss

Überwiegt angesichts dieser Erfolge nicht doch die Feierlaune? Gabriele Godenzi schaut skeptisch, während Anna-Pierina Godenzi, die Ideengeberin, leicht mit dem Kopf schüttelt. “Wir feiern nicht. Wir sind noch nicht am Ziel”, erklärt Gabriele Godenzi, die Mutter. Als Mutter von drei Kindern habe sie sich immer über die wie festzementierten Zuschreibungen geärgert. Auch, wenn sie als Selbstständige ihre Zeit einteilen konnte. Aber in diesen Zuschreibung liege so viel Ungerechtigkeit. Das habe sie immer empört. 

Doch mit Empörung alleine erreiche man nichts. Lieber setzen sie mit einer Aktion ein Zeichen, an die man sich auch mit einem Lächeln erinnere. Und die nachhaltig ist.

Darum, so ergänzt ihre Tochter Anna-Pierina Godenzi, werde es weitere Aktionen rund um diesen Teppich geben. Theater im Sommer, eine eigene Ausstellung im Herbst und immer wieder Rundgänge zur Frauengeschichte. Hier in Schaffhausen. Und vielleicht auch in den anderen Städten Schweiz? Zwei Grübchen werden in Anna-Pierina Godenzis Wangen sichtbar. “In Zürich wird schon gestrickt. Wir sind erst am Start.”

Links: www.1971.sh / https://ch2021.ch/geschichte/ https://www.parlament.ch/de/%C3%BCber-das-parlament/politfrauen/eroberung-der-gleichberechtigung/frauenstimmrecht

Literatur: Isabel Rohner (Hg.), Irène Schäppi (Hg.): 50 Jahre Frauenstimmrecht, Limmat-Verlag, Zürich, 2. Aufl., November 2020

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