“What if there was another way?”
Was wäre, wenn es einen anderen Weg gäbe?
Wie beeinflussen moderne Technologien unsere Kultur? Wie verändern sie die Arbeit und das Zusammenleben in unserer Gesellschaft? Wie können wir unsere ethischen Standards in einer digitalen Welt aufrechterhalten? Mit diesen und weiteren spannenden Fragen beschäftigt sich Digital-Anthropologin Rahaf Harfoush. femMit hat mit der 39-jährigen Vordenkerin gesprochen.
Text: Martina Cwojdzinski
Wenn Menschen neue Technologien nutzen, hat das Auswirkungen auf sie persönlich, ihre Arbeit, und die Gesellschaft. Denn Technologie und Kultur beeinflussen sich wechselseitig. Das das nicht immer nur positiv ist, beschreibt die New York Times-Bestseller Autorin in ihrem Buch „Hustle & Float“. Darin beschäftigt sich Rahaf Harfoush mit dem Zusammenspiel von Produktivität und Kreativität und schildert, wie sie selbst, besessen von Arbeit, in ein Burn-out geriet. Die ständige Erreichbarkeit, immer neue technische Möglichkeiten der digitalen Zusammenarbeit und nicht zuletzt der Glaubenssatz „nur wer viel arbeitet, ist etwas wert“, führten dazu, dass bei ihr selbst eines Tages gar nichts mehr ging. Als sie im wahrsten Sinne des Wortes wieder denken konnte, änderte Rahaf ihr Leben und vor allem ihr Verständnis von Arbeit grundlegend. Rückblickend sieht sie es selbst als bahnbrechenden Moment, in dem sie sich selbst die Frage stellte: Was, wenn es auch anders geht?
Und dieser Frage ging sie auf den Grund. Nicht ganz uneigennützig, doch ganz in ihrem kollaborativen Element, teilt sie ihr Wissen seitdem mit allen. Sie ist in TV-Shows, steht auf großen Bühnen und berät Führungskräfte in Unternehmen, wie es anders gehen könnte: wie beispielsweise die Nutzung von Künstlicher Intelligenz. Im Konjunktiv deshalb, weil sie es selbst (noch) nicht weiß. Die Zeit der einfachen Antworten sei vorbei, sagt sie. Es würde eher immer komplexer. So steht für sie über allem die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, an einem Punkt, in dem die Technologie so große Fortschritte macht und von Tag zu Tag selbst menschlicher handelt und klingt?
Rahaf selbst ist alles andere als ein Technikfreak. Sie ist weniger an den technischen Möglichkeiten als solchen interessiert, als vielmehr daran, wie und warum Menschen die modernen Technologien nutzen. Die Technologie ist für Rahaf also nur Mittel zum Zweck, um Menschen besser zu verstehen. Zudem vertritt sie die Ansicht, dass bei jeder Entwicklung eines neuen digitalen Tools immer der Mensch im Vordergrund stehen müsse. Zu oft habe sie bei ihren Kunden erlebt, dass in einem Raum nur Entwickler gesessen haben, um etwas zu entwickeln, was am Ende einen Einfluss auf Millionen von Menschen hat – ohne jemals mit Soziolog:innen, Ärzt:innen, Psycholog:innen, Wissenschaftler:innen etc. gesprochen zu haben. Dabei brauche es gerade diese menschlichen Perspektiven, sonst gibt es am Ende zwar großartige neue Tools, die aber nicht unbedingt gut für uns sind oder dazu passen, wie wir künftig leben möchten. Diese „human centric perspective“, die Perspektive, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, ist daher so entscheidend. Und Rahaf versucht mit ihrer Arbeit die Menschen daran zu erinnern, dass dieses entscheidende menschliche Element beim Blick in die digitale Zukunft nicht vergessen wird. Eine stärkere Verbindung zwischen menschlichen und technischen Aspekten wünscht sie sich für die künftige Entwicklung neuer digitaler Tools. Zu lange habe man als Gesellschaft zu viel Wert allein auf die technischen Fähigkeiten gelegt, ist sie überzeugt und blickt lieber auf die menschlichen Aspekte.
Menschlich ist es auch, dass sich Rahaf selbst eingesteht, trotz jahrelanger Erfahrung noch immer vor jedem Auftritt in der Öffentlichkeit nervös zu sein. Grund dafür: die Verantwortung, die sie spüre, wenn sie über Themen spricht, die uns alle bewegen. Ich möchte über diese wirklich komplizierten Themen auf eine Weise kommunizieren, die den Menschen hilft, sie zu verstehen“, so Rahaf.
Um etwas zurückzugeben und vor allem junge Frauen am Anfang ihrer Karriere zu unterstützen, plant Rahaf monatlich eine gewisse Stundenanzahl für ihr Pro Bono Coaching ein. In dieser Zeit trifft sie sich mit ihnen auf einen Kaffee oder zu einem Spaziergang, hört sich ihre Fragen an und gibt Ratschläge – so wie ihr selbst früher von vielen Menschen geholfen wurde.
Rahaf selbst liebt es Teil von Gemeinschaften zu sein. Den Begriff der „community“ (Gemeinschaft) findet sie passender als „network“ (Netzwerk). Obwohl sie feststellt, dass das sich miteinander Vernetzen für ihre eigene Karriere ausschlaggebend war. Sie erinnert sich, wie cool sie es als 19-Jährige während ihres Studiums fand, dass es möglich war, ein Buch von einer interessanten Person zu lesen und diese dann über Twitter anzuschreiben und sich mit ihr auszutauschen.
Auch wenn Rahaf betont, dass es immens wichtig sei, eine Gemeinschaft aus unterschiedlichsten Personen, unabhängig vom Geschlecht, aufzubauen, so hat sie doch auch ganz bewusst Frauengemeinschaften und Frauennetzwerke für sich ausgewählt, um von ihnen zu lernen und gegenseitig voneinander zu lernen. So zählt sie einige Frauen auf, wie die Wissenschaftlerin Rita McGrath, Harvard-Professorin Amy Edmonson, Alexandra Carter, Dozentin für Verhandlungsführung an der Columbia Law School und Laura Gassner Otting, die über Erfolg spricht. Frauen, die ihr Wissen großzügig mit ihr geteilt haben und sich Zeit für sie und ihre Fragestellungen genommen haben. Das funktioniert nur, wenn Menschen die Einstellung vertreten, dass es Platz für alle gibt und es keinen Konkurrenzkampf geben muss, in dem man zum Beispiel Angst um Aufträge hat und deshalb Kunden nicht mit anderen Dienstleistern aus der gleichen Branche vernetzt. Ihr selbst sei das zu Beginn ihrer Karriere passiert, was sie selbst als Schande beschreibt. Denn ihrer Ansicht nach profitieren alle davon, wenn man sich gegenseitig unterstützt, ermutigt und dadurch die Gemeinschaft als Ganzes erfolgreich ist. Denn das wiederum habe einen generativen Effekt für jede einzelne Person innerhalb dieser Gemeinschaft.
Sie selbst ist in einer Chatgruppe mit anderen weiblichen Coaches. Immer wenn eine der Frauen z. B. ein Buch veröffentlicht, unterstützen und ermutigen die anderen Teilnehmerinnen sie. Und genau so sollte es doch sein: Schließlich gibt es genügend Arbeit, Möglichkeiten, Kunden und Auszeichnungen. Mit dieser Einstellung nehmen wir uns gegenseitig nichts weg, sondern führen uns gemeinsam zum individuellen Erfolg. Rahaf beschreibt es als „abundance mindset instead of a scarcity mindset” – also in Fülle statt in Knappheit denken.
Wie viel menschlicher wäre unsere Welt, wenn wir alle diese Perspektive einnehmen würden, fragt sich Rahaf. Einfach alle Menschen zusammenbringen, damit wir besser zusammenarbeiten und voneinander lernen können. Schön wäre es, oder?
Mit Blick in die Zukunft und unserer heutigen Zeit der vielen Krisen, können wir uns darauf einstellen, dass unsere Welt viele weitere Male durcheinandergewirbelt werden wird. Wie zuletzt durch die Corona-Pandemie, sodass wir uns besser mit der Frage beschäftigen sollten: Wie können wir die nächste Krise nutzen, um daran zu wachsen? Die Frage sollte längst nicht mehr sein: Wie stehen wir das durch und überleben das?
Rahaf verweist in diesem Zuge auf den Begriff der Nachhaltigkeit. Doch statt den Fokus nur darauf zu legen, die vorhandenen Ressourcen zu schützen, schlägt sie vor, diese zu erneuern. Das gelte für Beziehungen, ebenso wie für Unternehmen, aber auch für die Landwirtschaft. Wie können beispielsweise unsere Lebensmittelsysteme so aufgebaut werden, dass sie nicht nur widerstandsfähig, im Zuge des Klimawandels, sondern auch regenerativ sind. Rahaf betont, dass dies eine der wohl wichtigsten Fragen in den nächsten zehn bis 15 Jahren sein wird. Nur wer in eine regenerative Zukunft investiert, denkt wirklich an die Menschen. Nicht alles aufbrauchen, was da ist, sondern alles, mit dem wir in Kontakt kommen, sollte danach besser dastehen als zuvor.
Vielleicht könnte das der andere Weg sein?
Über Rahaf Harfoush
Rahaf Harfoush lebt in Paris. Die 39-Jährige ist Direktorin des Red Thread Institute of Digital Culture (https://redthreadinc.co) und lehrt Innovation & Emerging Business Models an der SciencePo (https://www.sciencespo.fr/ecole-management-impact/en/). Sie ist Mitglied des französischen Nationalen Digitalrates und Visiting Policy Fellow am Oxford Internet Institute (https://www.oii.ox.ac.uk/people/profiles/rahaf-harfoush/#positions).
Von Frankreichs Präsident Macron wurde Rahaf Harfoush in die Kommission zur Rolle der Technologie für die Demokratie berufen. Zuvor war sie stellvertretende Direktorin des Technology Pioneer Program beim Weltwirtschaftsforum Davos. Ihr erstes Buch „Yes We Did! An Insider’s Look at How Social Media Built the Obama Brand” schrieb sie über ihre Erfahrungen im digitalen Wahlkampfteam von Barack Obama. Aktuell schreibt sie an ihrem vierten Buch.