Zeitgeschichte: Doppelt so viele Mädchen wie Jungs

In der ehemaligen DDR machte der Frauenanteil im Studiengang Informationsverarbeitung ungefähr 50 bis 60 Prozent aus – in der heutigen Informatik liegt er je nach Bundesland gerade mal zwischen 15 und 21 Prozent. Was war anders und vor allem: Was ist passiert? Zeitzeuginnen suchen nach Erklärungen.  

Text: Katalin Valeš

„In unserer Seminargruppe waren wir doppelt so viele Mädchen wie Jungs“, erinnert sich Birgit Engert. Sie hat von 1971 bis 1975 an der Ingenieurhochschule Dresden Informationsverarbeitung studiert und sich in ihrer Diplomarbeit mit Programmierung beschäftigt. Weil ihr Vater Selbstständiger war, durfte Birgit Engert kein Abitur ablegen. Um zum Studium zugelassen zu werden, nahm sie deshalb einen kleinen Umweg in Kauf: Parallel zu ihrer Ausbildung als „Facharbeiter für Datenverarbeitung“ legte sie eine Sonderreifeprüfung ab. Damit war sie nach ihrer Lehre zum Studium berechtigt. „Ich habe schrecklich gerne Mathematik gemacht“, begründet sie ihre Motivation. Ihre Leidenschaft für die Mathematik teilt sie mit Prof. Dr.-Ing. habil. Meike Klettke, die bis vor Kurzem an der Rostocker Universität gelehrt hat und seit April an der Universität Regensburg den Lehrstuhl Data Engineering innehat. „Mathematik war mein absolutes Lieblingsfach in der Schule. Weil ich etwas Anwendungsorientierteres studieren wollte, habe ich mich für Informatik entschieden.“

Hoher Stellenwert von Naturwissenschaften im DDR-Schulsystem

Meike Klettke sieht als einen Grund für den höheren Frauenanteil in Informatik-Studiengängen der ehemaligen DDR den generell höheren Stellenwert  für Naturwissenschaften und Technik in den Schulen: „Die Schulausbildung war in der DDR viel technischer orientiert. Es gab auch mehr Berührungspunkte mit technischen Berufen, etwa durch das Schulfach WPA (Wissenschaftlich-Praktische Arbeit), das Praxistage in Betrieben beinhaltete. So wurden Talente auf diesem Gebiet vielleicht auch besser gefördert.“ Prof. Dr.-Ing. habil. Heidrun Schumann sieht das genauso. Die mittlerweile emeritierte Professorin hat lange an der Universität Rostock im Bereich der Computergrafik gearbeitet. Gefragt nach den Gründen für den höheren Frauenanteil in der Informationsverarbeitung vor der Wende verweist sie ebenfalls zunächst auf das Schulsystem in der DDR und die allgemeine Einstellung gegenüber dem, was heute als MINT-Fächer bezeichnet wird: „Wer heute sagt, kein Mathe zu können, kann mit Beifall rechnen. Manche Leute brüsten sich ja regelrecht damit, zum Beispiel in Talkshows. Als ob das was Tolles wäre, schlecht in Mathe zu sein. Das hätte wohl früher niemand so gerne zugegeben.“ Die von ihr beobachtete, gesellschaftliche Toleranz gegenüber mathematischem Unvermögen heutzutage kann sie nicht nachvollziehen. Angela Buchwald, Facharchivarin am Universitätsarchiv der TU Dresden, hat eine ganz ähnliche Wahrnehmung: „Aus den sogenannten Altbundesländern schwappte ein Frauenbild in den östlichen Landesteil hinüber, nach welchem Heim, Herd, Familie, Kindererziehung und nichttechnische Berufe als Betätigungsfeld für Frauen angesehen waren. Hinzu kommt, dass durch die Medien nahezu permanent kolportiert wird, dass es schick sei, zu Mathematik und artverwandten Fächern ein gespaltenes Verhältnis zu haben – um es mal vorsichtig auszudrücken. Da kann ich mir schon vorstellen, dass Mädchen, die sich im Alter von 18 bis 20 Jahren für ein Studium entscheiden, eher weniger daran interessiert sind, als Nerd oder Freak zu gelten.“ Auch Meike Klettke bedauert diese Entwicklung: „Das Bild für Informatik ist nicht immer ein Positives – viele denken da an Hacker und Nerds und es kann schon sein, dass Frauen da sagen, es wäre nichts für sie“. Was die wenigsten wissen: In ihren Anfängen war IT Frauensache.

Die Rechenmaschinen damals waren meterlang, tonnenschwer und besaßen weder Monitor noch Computermaus, dafür aber kilometerlange Kabel. Um ein Programm laufen zu lassen, wurden Lochkarten und Kabelschaltung benötigt. Ununterbrochen ratterten die Schalter: Strom an, Strom aus. Alles wurde in Einsen und Nullen übersetzt. Trotzdem reichte die Rechenleistung der damaligen Computer nicht annähernd an die unserer heutigen Smartphones heran. Doch ohne diese Rechendinosaurier wären wir nicht da, wo wir heute sind.

IT war historisch eine Frauendomäne

Die Wiege der Informatik liegt in Großbritannien und Amerika: Programmieren war jedoch ursprünglich als Arbeit für „Bürokräfte mit niedrigem Status gedacht“ und somit scheinbar prädestiniert für Frauen, schreibt der Historiker Nathan Ensmenger in seinem Aufsatz „Wie Programmieren eine Männerdomäne wurde“. Während des Zweiten Weltkriegs lieferten vor allem Mathematikerinnen die Rechenleistungen, die für Raketenberechnungen oder zum Entschlüsseln von Nachrichten erforderlich waren. Diese Frauen wurden als „Computer“ bezeichnet. Während und nach dem Krieg wurden mit dem ENIAC in den USA und dem Colossus in Großbritannien programmierbare Rechenmaschinen eingeführt. Sie ersetzten die „menschlichen Computer“, die dann zunächst als Programmiererinnen weiterbeschäftigt wurden. Als die bekannteste Pionierin der Informatik gilt die US-Amerikanerin Grace Hopper. Sie erfand den Compiler, eine Programmiersprache und arbeitete mit dem ersten vollelektronischen Rechner der Welt. Die Redewendung „einen Bug beseitigen“ geht auf sie zurück, und auf eine Motte, aber das ist eine andere Geschichte. Nebenbei bemerkt: Die Rechenmaschinen damals waren meterlang, tonnenschwer und besaßen weder Monitor noch Computermaus, dafür aber kilometerlange Kabel. Um ein Programm laufen zu lassen, wurden Lochkarten und Kabelschaltung benötigt. Ununterbrochen ratterten die Schalter: Strom an, Strom aus. Alles wurde in Einsen und Nullen übersetzt. Trotzdem reichte die Rechenleistung der damaligen Computer nicht annähernd an die unserer heutigen Smartphones heran. Doch ohne diese Rechendinosaurier wären wir nicht da, wo wir heute sind. Eine weitere herausragende IT-Entwicklerin ist übrigens die NASA-Programmiererin Margaret Hamilton. Mit ihrem Programm für ein Flugsteuerungssystem brachte sie die Apollo-Astronauten sicher zum Mond und wieder zurück. Erst nach und nach wurde die Disziplin in ein wissenschaftliches, männliches Fach mit hohem Status transformiert – und die Gehälter stiegen, auch weil die Anforderungen immer komplexer wurden. Während in den USA die ersten Frauen bereits wieder von Männern aus dem Berufsfeld gedrängt wurden, steckte die Informationsverarbeitung in der DDR noch in ihren Kinderschuhen. Wie in den USA waren es Frauen, die sich am Anfang dafür begeistern ließen. Mit der heutigen IT-Ausbildung könne die von damals allerdings wohl kaum verglichen werden, sagt die Dresdner Informatikerin Birgit Engert: „In meiner Lehre spielten die Tabelliermaschinen noch eine große Rolle und Lochkartenstapel, und als ich fertig war mit meinem Studium, da fing die Entwicklung von Betriebssystemen gerade erst an.“ Nach der Wende, so erinnert sie sich, habe es dann einen großen Sprung in der technischen Entwicklung gegeben. 

Angela Buchwald, die sich als Facharchivarin vom Dresdner Universitätsarchiv mit der Entwicklung der Geschichte des Studiengangs an der TU Dresden auseinandergesetzt hat, äußert als Vermutung für den hohen Frauenanteil die inhaltliche Nähe zu den Wirtschaftswissenschaften: „Die Fachrichtung ‚Informationsverarbeitung‘ war anfangs stark an Inhalten zu Ökonomie und Rechnungswesen orientiert. Sie entwickelte sich erst im Laufe der Jahre zu einer Ausbildung, die im weitesten Sinne Spezialisten für Softwareentwicklung heranbildet. Ökonomische Fachrichtungen sind traditionell, also schon vor 1945, stark von Frauen frequentiert.“ Die Fachrichtung „Informationstechnik“ hatte in der ehemaligen DDR vor allem die Computertechnik im Blick und vermittelte das Wissen, um ingenieurtechnische Entwicklungen in diesem Metier erzeugen zu können. Erst mit Gründung des Informatikzentrums des Hochschulwesens der DDR an der TU Dresden im Oktober 1986 war die Rede von „Informatik“.

„Für Studentinnen, die während ihrer Ausbildung ein Kind zur Welt brachten, gab es einen Sonderstudienplan, damit das Studium fortgesetzt und mit dem geplanten Ausbildungsziel abgeschlossen werden konnte.
Dies hat möglicherweise mehr Frauen veranlasst, ein Studium aufzunehmen, als es in der Gegenwart der Fall ist.“

Angela Buchwald, Dresdner Universitätsarchivarin

Frauenförderung und verordnete Emanzipation

Das Leitbild in der DDR war das der berufstätigen Frau – und zwar eine, die neben der Arbeit ohne Murren den Haushalt schmiss und die Kinder betreute. Neben dem Recht auf Arbeit gab es allerdings ebenso die Pflicht und Notwendigkeit dazu. Die Gehaltsstrukturen im ehemaligen „Arbeiter- und Bauernstaat“ waren so gestaltet, dass eine Familie ohne die Berufstätigkeit beider Eltern wirtschaftlich nur schwer über die Runden gekommen wäre. Ende der 1980er Jahre lag die Erwerbsquote von Frauen bei 91,2 Prozent. Der Grundsatz der Gleichberechtigung war in der DDR-Verfassung vom Oktober 1949 festgeschrieben: „Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben.“ Anders als in der damaligen Bundesrepublik mussten DDR-Frauen ihre Ehemänner nicht um Erlaubnis fragen, wenn sie einen Beruf ergreifen oder ein Bankkonto eröffnen wollten. „Die DDR hatte stets Anstrengungen unternommen, als Sozialstaat zu gelten und hat insbesondere das Studium von Frauen gefördert“, erzählt die Dresdner Universitätsarchivarin Angela Buchwald. „Für Studentinnen, die während ihrer Ausbildung ein Kind zur Welt brachten, gab es einen Sonderstudienplan, damit das Studium fortgesetzt und mit dem geplanten Ausbildungsziel abgeschlossen werden konnte. Dies hat möglicherweise mehr Frauen veranlasst, ein Studium aufzunehmen, als es in der Gegenwart der Fall ist.“ Betreuungsplätze für Kinder waren garantiert. Außerdem starteten in den Jahren zwischen 1969 und 1972 an der „Ingenieurhochschule Dresden“ (IHD) Studiengänge, für die nur Frauen zugelassen waren – das sogenannte „Frauensonderstudium“. Das Ziel: den Studienverlauf und den Studieninhalt mit den speziellen Interessen von Frauen und Müttern abzustimmen und ihnen gleichzeitig eine vollwertige Ausbildung zu ermöglichen. Schön und schlecht zugleich, denn es zeigt auch: Familie und Kinder waren in der DDR wie in der damaligen Bundesrepublik vor allem eins – Verantwortung der Frauen. Nach zweieinhalb Jahren sollten die Studentinnen ihr Studium mit dem Abschluss „Hochschulingenieur für Informationsverarbeitung“ abschließen. Ein Großteil des Frauensonderstudiums beantragte jedoch die Verlängerung des Abgabetermins für die Hausarbeit, was in der Regel genehmigt wurde, wie Angela Buchwald, Facharchivarin an der Technischen Universität Dresden aufgearbeitet hat. 60 Prozent der Frauen im Frauensonderstudium schlossen mit guten oder sehr guten Leistungen ab. Ein handschriftlicher Abschlussbericht vom April 1975 setzt sich unter anderem mit den Ursachen für die sehr erfolgreichen Leistungen der Frauen im Sonderstudium auseinander. Ihnen wird „eine hohe Studienmoral“ bescheinigt. So heißt es in dem Bericht: „Die Motive dazu sind in einem ungewöhnlichen Ehrgeiz, einem festen Willen, alle Schwierigkeiten zu überwinden, und dem Bewusstsein, für die großzügige Förderung durch die Gesellschaft auch entsprechende Leistungen zu bringen, begründet.“ Auch von Leistungsdruck ist die Rede: „Die Seminargruppen wachen sehr streng über die Leistungsentwicklung jeder Einzelnen.“ Doch nicht alle Frauenfördermaßnahmen waren wohl im Sinne der Frauen: So kritisierte Marina Beyer, damals Beauftragte des Ministerrates für die Gleichstellung von Frauen und Männern, im Frauenreport 1990 die DDR-Frauenförderung als eine Politik, die weitgehend unter „Ausschluss der Frauen von alten Herren im Politbüro der SED verordnet wurde und die gut zu sein hatte für über 50% der DDR-Bevölkerung, für ‚unsere Frauen‘.“  

Studienplatzvergabe im Einklang mit der Planwirtschaft

Die Wiedervereinigung hat die Frauen gewissermaßen aus den Informatikstudiengängen verschwinden lassen, wie eine Analyse von Britta Schinzel zeigt. Die Professorin für Mathematik und Informatik im Ruhestand hat sich lange mit dem Themenfeld Geschlechterforschung in den sogenannten MINT-Fächern beschäftigt. Ihr drastisches Beispiel ist der Informatik-Studiengang an der Rostocker Universität. Dort lag kurz vor der Wiedervereinigung der Frauenanteil bei etwa 65 Prozent. Innerhalb von nur zehn Jahren fiel er auf gerade mal 10 Prozent. Heute ist Mecklenburg-Vorpommern mit 14,6 Prozent Frauen in der Informatik bundesweit Schlusslicht. Wer sich heute unter Zeitzeuginnen an der Uni Rostock umhört, die zu DDR-Zeiten dort studiert haben und noch heute im Informatikbereich arbeiten, bekommt interessante Einblicke. Gefragt nach den vermuteten Gründen für die sinkende Frauenquote nach der Wiedervereinigung herrscht kurz Stille am anderen Ende der Leitung des Telefons. Dann beginnt unter den Kolleginnen eine angeregte Diskussion. Vor allem erscheint die Umstellung des Studiensystems ein wichtiger Punkt zu sein. Nach der Wiedervereinigung konnten nun Studiengänge belegt werden, die vorher für viele nicht zugänglich waren. Das System der Studienplatzvergabe hatte sich in den 1990er Jahren grundlegend verändert. Wurde in den ehemaligen DDR-Zeiten ein Studienplatz nur dann vergeben, wenn bei Studienbeginn bereits klar war, dass im Anschluss ein Arbeitsplatz zur Verfügung stand, war es nun möglich, im wiedervereinten Deutschland interessengeleitet zu studieren. Die DDR-Hochschulplanung sah das nur sehr eingeschränkt vor. Im Klartext bedeutete das: Zum Teil wurden Menschen gezwungen, entgegen ihrer Interessen bestimmte Berufe zu ergreifen. Heidrun Schumann erinnert sich: „Es gab keine freie Studienwahl, wie wir es heute kennen. Wir konnten natürlich Wünsche äußern, aber Studienplätze wurden zugewiesen oder umgelenkt. Außerdem waren die Gesamtzahlen andere: Gerade mal 10 bis 12 Prozent eines Jahrgangs durfte überhaupt Abitur machen, das war dann wirklich die Leistungsspitze und dadurch war dann sicherlich das Leistungsniveau ein anderes als heute.“ Geleitet wurden die DDR-Hochschulen vom Staatssekretariat. Die Forschungsplanung und somit die Anzahl der Studierenden war dem Fünfjahresplan der Wirtschaft angepasst – so sollten etwa 40 Prozent der Studierenden eine technische Wissenschaft wählen. Die Zulassungspolitik war rigide: Studieren durfte nur, wer parteikonform war und eine sozialistische Grundeinstellung vorweisen konnte – oder zumindest sehr glaubhaft vortäuschen konnte. In technisch-mathematisch-naturwissenschaftlichen Studiengängen war dies jedoch sicherlich leichter als in anderen Studienfächern. Bildung galt als Disziplinierungsinstrument: Wer sich öffentlich gegen den Staat stellte und damit auffiel oder sich aus Glaubensgründen gegen die Jugendweihe entschied, wurde nicht zum Studium zugelassen. 

„Die Jungen hatten schlichtweg keine Chance, sich für die ersten Jahrgänge zu bewerben. Denn es gab einen dreijährigen Wehrdienst und sie mussten schon vor der Armeezeit entscheiden, was sie danach studieren wollten.“

Meike Klettke, ehemalige Professorin Universität Rostock

Meike Klettke hat für den damals vergleichsweise hohen Frauenanteil unter den Studierenden in Rostock noch eine andere Begründung – sie ist so banal wie sinnbildlich für die damalige Zeit. Klettke hat ihr Informatikstudium 1987 an der Uni Rostock begonnen, erst ein Jahr zuvor sei dort der Studiengang gestartet. „Die Jungen hatten schlichtweg keine Chance, sich für die ersten Jahrgänge zu bewerben. Denn es gab einen dreijährigen Wehrdienst und sie mussten schon vor der Armeezeit entscheiden, was sie danach studieren wollten.“ Für die ersten Jahrgänge seien dann auch junge Frauen massiv umgelenkt worden, das heißt: Statt des eigentlichen Studienwunsches wurde es dann Informatik. Nach der Wiedervereinigung stieg der Anteil der Männer, die sich für dieses Fach entschieden, dann extrem – auch in absoluten Zahlen. Für Meike Klettke war die Wahl ihres Studienfaches eine bewusste, und auch Heidrun Schumann war zufrieden mit ihrer Studienwahl. Bei der jüngeren Generation ist ihr aufgefallen, dass der Frauenanteil in anwendungsbezogenen Fächern höher ist: „Fächer wie Bioinformatik, Umweltinformatik oder Medizininformatik sprechen Frauen mehr an als die reine Informatik. Hier sind sie viel stärker vertreten.“ 

Alles anders: Große Umbrüche nach der Wende 

Die Wiedervereinigung wirbelte auch die damalige IT-Branche in Ostdeutschland kräftig durcheinander und bedeutete einen tiefgreifenden Umbruch. Arbeitsverträge des wissenschaftlichen Personals an Hochschulen wurden aufgehoben, Studiengänge wurden personell, strukturell und inhaltlich reformiert. Die Unsicherheit wuchs. „Viele Arbeitsplätze in der Industrie gingen verloren und was neu entstand, war verknüpft mit Mutterfirmen in Westdeutschland, und die brachten ihre eigene Software mit“, erinnert sich Birgit Engert an die Unsicherheit auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt in den 1990ern. Vielleicht schreckte diese berufliche Unsicherheit in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung vor allem Frauen vom Informatikstudium ab. Auch Birgit Engert musste sich beruflich neu orientieren. Nach ihrem Studienabschluss hatte sie bis zur Wende im Wissenschaftsbereich Programmierung an der Ingenieurhochschule Dresden gearbeitet. Danach gründete sie gemeinsam mit anderen eine eigene Firma und lernte einige Jahre lang die freie Marktwirtschaft kennen. Ab 1993 hat sie bis zu ihrem Ruhestand im Landesamt für Umwelt und Geologie das integrierte Messsystem des Bundes betreut. Das wurde nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl in den neuen Bundesländern aufgebaut. Von den gesellschaftlichen Veränderungen ließ sich Birgit Engert nicht aus der Bahn werfen. Andere hatten weniger Glück: Mathematikprofessorin Britta Schinzel zufolge war es kurz nach der Wiedervereinigung gewissermaßen politischer Wille, Frauen vom Arbeitsmarkt abzuhalten – um diesen zu „entlasten“ und ihn „den alten Bundesländern anzugleichen“. Die Politik führte die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern auf die hohe Arbeitsquote von Frauen zurück, die es galt, auf einen „normalen“ (westdeutschen) Zustand zu reduzieren. Der Osten glich sich also dem Westen an – das betraf letztlich auch die Frauen in der Informatik. Während Männer in der IT bald wieder einen Arbeitsplatz bekamen, wurden Frauen im Zuge der großen „Arbeitsplatzabwicklung“ zwischen 1990 und 1992 endgültig entlassen. Zudem wurden Kindergärten geschlossen, weil die Betreuung der Kinder nun wieder verstärkt in die Hände der Familien gelegt werden sollten – keine rosigen Aussichten für Studienanfängerinnen. 

Frauen können IT!

Zeitzeuginnen finden also ganz unterschiedliche Erklärungen dafür, dass der Frauenanteil unter den IT-Studierenden in der DDR so viel höher war als heute. Die Vermutung, dass Frauen und Mädchen für die Informatik weniger geeignet seien oder sich für diesen Fachbereich schlichtweg nicht interessieren, hatte interessanterweise keine der Befragten geäußert – warum auch? Frauen, so die einhellige Meinung, haben auf jeden Fall das Zeug dazu. —

Foto: TU Dresden, Universitätsarchiv, IHD-Fotosammlung Nr. 2419

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